In öffentlichen Diskursen über die Rolle polizeilichen Handelns wird wiederholt gefordert, die Polizei müsse verstärkt proaktiv agieren, anstatt primär reaktiv tätig zu werden sie müsse also vor die Lage kommen. Ziel ist es, potenzielle Gefährdungen frühzeitig zu erkennen und zu unterbinden, noch bevor sie sich manifestieren und in strafbares Verhalten übergehen. Eine solche präventive Ausrichtung würde nicht nur die Deeskalation von Konflikten begünstigen, sondern könnte auch die Effektivität und Ressourceneffizienz polizeilicher Maßnahmen steigern sowie zur Stärkung des öffentlichen Vertrauens in die Polizei beitragen. Vorausschauendes Handeln wird in diesem Kontext als Ausdruck institutioneller Professionalität interpretiert.
Doch stellt sich die Frage, ob ein derartiger präventiver Ansatz im polizeilichen Alltag überhaupt realisierbar ist. Kriminalität und deren polizeiliche sowie kriminalistische Bearbeitung unter- liegen stets einer Art von gegenseitiger Beeinflussung. Veränderungen innerhalb der Polizeiarbeit erfolgen nämlich häufig reaktiv, insbesondere dann, wenn gesellschaftliche oder technologische Umbrüche zu emotional aufgeladenen Kriminalitätsereignissen führen, welche die Polizei zur kritischen Reflexion und Neuausrichtung ihres Handelns zwingen. Es entsteht der Eindruck einer zyklischen Eskalation zwischen kriminalitätsprägenden Ereignissen und darauf folgenden polizeilichen Anpassungsprozessen. Je stärker dabei die moralische Aufladung eines Kriminalitätsereignisses ist, desto größer scheint das Potenzial dafür, dass sich polizeiliche bzw. kriminalistische Entwicklungsschübe vollziehen.
Der vorliegende Sammelband widmet sich daher der zentralen Frage, ob und in welchem Umfang ein Vor-die-Lage-Kommen für die Polizei überhaupt möglich ist und wie sich Kriminalität und Kriminalistik in ihrer Entwicklung wechselseitig bedingen. Handelt es sich womöglich um zwei voneinander abhängige, aber nicht identische Systeme gewissermaßen um zweieiige Zwillinge?
Inhaltsverzeichnis
Felix Bode / Harald Kania / Stefan Kersting
Gegenseitige Beeinflussung von Kriminalität und Kriminalistik
Bernhard Frevel
Wie wird ein Problem polizeilich relevant?
Ausgewählte Analysemodelle
Gina R. Wollinger
Spiegel der Gesellschaft: Wie sich die Vorstellung von Kriminalität auf ihre Bekämpfung auswirkt
Kristin Wolf / Clemens Lorei
Subjektives Sicherheitsgefühl als Motor für neue Technologien in der Polizeiarbeit?
Benjamin E. Luft
Die gegenseitige Beeinflussung der Entwicklung von Kriminalität und kriminalpräventiver Organisationsund
Gremienstruktur
Tim Lukas / Jacqueline Oppers
Broken Window und Zero Tolerance Policing
Marcus Papadopulos
Evil Twins: Digitaler Hass & terroristische Gewalt
Steven Avanzato-Driesner / Dominik Schroth
Von der Bedrohung zur Innovation über die Entwicklung
Sicherheitsbehördlicher Radikalisierungsprävention im Kontext extremistischer und terroristischer Bedrohungsszenarien
Alexander Wollinger / Franziska Franz
Von Problemdruck und öffentlichen Diskursen zur Kriminalstrategie am Beispiel der sogenannten Clankriminalität
Natalie Liedtke
Italienische Mafia in Deutschland Das Duisburger Attentat als Weckruf?
Christina Ettmann
Zur Neubewertung und Strafverfolgung von Kinderpornografie-Delikten im Internetzeitalter
Ann-Christin Adam / Benjamin Rampp
Die Digitalisierung von Partnerschaftsgewalt als polizeiliche Herausforderung
Coerw Krüger
Die Bekämpfung der Cyberkriminalität im Rahmen der Europäisierung der Inneren Sicherheit
Bernhard Rinke
Cyberbedrohungen als Katalysator der Europäisierung Innerer Sicherheit
Holger Plank
Präventiver Paradigmenwechsel in der Polizei?
Andreas Ruch
Polizeiliche Auswertung von Mobiltelefonen. Ein rechtlicher Blick auf eine kriminalistische Standardmaßnahme
Stefan Kersting / Felix Bode
Schutz von Polizeibeamtinnen und -beamten vor tätlichen Angriffen
Clemens Lorei / Kerstin Kocab
Überlegungen zur kommunikativen Beziehung in alltäglichen polizeilichen Konfliktsituationen
Harald Kania / Stefan Kersting / Felix Bode
Epilog: Vor die Lage kommen!