Ein ruhigerer, aber tiefgründigerer Band, der weniger durch Tempo als durch Charaktertiefe überzeugt.
Mit "Der Ruf der Klingen" eröffnet Brandon Sanderson nach dem monumentalen Höhepunkt von "Die Stürme des Zorns" ein neues Kapitel in den Sturmlicht-Chroniken. Schon zu Beginn wird spürbar, dass sich das Erzähltempo wandelt: An die Stelle von gigantischen Schlachten, politischen Intrigen und weltbewegenden Enthüllungen tritt nun eine Phase der Sammlung - die sprichwörtliche Ruhe nach dem Sturm. Diese Verlangsamung bedeutet jedoch keineswegs Stillstand. Vielmehr nutzt Sanderson sie gezielt, um seinen Figuren und der Welt von Roschar mehr Tiefe zu verleihen und den Lesenden Raum für Reflexion zu geben.Sanderson hat sich längst den Ruf erarbeitet, ein Meister des Weltenbaus zu sein. Mit akribischer Detailfreude entwirft er Kulturen, Religionen, politische Gefüge und Magiesysteme, die so komplex wie faszinierend sind, und führt seine Leserschaft behutsam Schritt für Schritt in diese Geflechte ein. In "Der Ruf der Klingen" treibt er dieses Vorgehen jedoch noch intensiver voran. Er nimmt sich die Zeit, Zusammenhänge nicht nur zu schildern, sondern sie auch zu ordnen, zu erklären und in neue Kontexte zu stellen. Die Magie wird aus ungewohnten Blickwinkeln beleuchtet, politische Strukturen verschieben sich, alte Gewissheiten werden hinterfragt. Für jene, die den hohen Pulsschlag der vorherigen Bände gewohnt sind, mag dieses gedrosselte Tempo zunächst irritierend wirken. Doch gerade in dieser Ruhe entfaltet sich die wahre Stärke des Romans: Sie erlaubt es, die dramatischen Ereignisse der Vergangenheit zu verarbeiten, Figuren und Entwicklungen neu zu verorten und ein tieferes Verständnis für die Bühne zu gewinnen, auf der das große Epos weitergeschrieben wird.Ein wesentlicher Unterschied zu den Vorgängerbänden ist der deutlich stärkere Fokus auf Dalinar. Während er bisher vor allem als verlässliche Stütze und strategischer Kopf in Erscheinung trat, rückt er in diesem Band endgültig ins Zentrum des Geschehens. Sanderson nimmt sich die Zeit, hinter die Fassade des unbeugsamen Heerführers zu blicken, und zeichnet das Bild eines Mannes, der gleichermaßen von Visionen angetrieben wie von Schuldgefühlen verfolgt wird. Dalinars Streben nach Einheit und Frieden kollidiert immer wieder mit den Schatten seiner Vergangenheit, die ihn nicht loslassen und ihn zugleich formen. Besonders eindringlich gelingt dies in den Rückblicken, die Stück für Stück Mosaiksteine seiner Geschichte enthüllen - mal erschütternd, mal erhellend, stets aber mit großer emotionaler Wucht. Dadurch entsteht ein facettenreiches Porträt, das ihn nicht nur als charismatischen Anführer, sondern auch als zutiefst menschliche Figur zeigt: einen Helden, der sich mit den Konsequenzen seiner eigenen Entscheidungen auseinandersetzen muss und dabei Gefahr läuft, sowohl an sich selbst als auch an der Verantwortung gegenüber seinem Volk zu zerbrechen.Anstatt sich in spektakulären Schlachten oder actiongeladenen Höhepunkten zu verlieren, schlägt Sanderson diesmal bewusst einen leiseren Ton an und richtet den Blick nach innen. Die großen Konflikte treten in den Hintergrund, um Platz für die feinen Nuancen zwischenmenschlicher Beziehungen zu schaffen. Freundschaften festigen sich, alte Wunden brechen wieder auf, und selbst Nebenfiguren gewinnen an Tiefe, weil ihre persönlichen Kämpfe und Sehnsüchte in den Vordergrund rücken. Die Konflikte, die nun ausgetragen werden, sind weniger Schlachten auf offenem Feld als vielmehr innere Auseinandersetzungen und Machtspiele im Kleinen - dadurch wirken sie umso intensiver und greifbarer.Gleichzeitig erweitert sich der Blick auf die Gesellschaft von Roschar. Strukturen, die bisher nur angedeutet wurden, treten deutlicher hervor; wir bekommen Einblicke in Hierarchien, Traditionen und Bruchlinien, die das Fundament dieser Welt tragen - und bedrohen. Unter der scheinbaren Ordnung schwillt ein Spannungsfeld aus religiösen, politischen und kulturellen Gegensätzen, das jederzeit eskalieren könnte. Gerade diese Verbindung aus intimer Charakterarbeit und groß angelegtem Weltenbau macht den Band zu einem unverzichtbaren Baustein des Gesamtwerks.Wer nach dem Donnerhall von "Die Stürme des Zorns" ein weiteres Feuerwerk erwartet, könnte zunächst überrascht oder gar ernüchtert sein: "Der Ruf der Klingen" ist nicht der lauteste, nicht der spektakulärste Band der Sturmlicht-Chroniken. Doch gerade in dieser Zurückhaltung liegt seine eigentliche Stärke. Denn während andere Teile der Reihe mit monumentalen Schlachten und atemberaubenden Enthüllungen glänzen, übernimmt dieser Band die Rolle des Architekten, der die Grundmauern für das Kommende legt. Sanderson beweist dabei einmal mehr, dass er sein Epos wie ein gewaltiges Bauwerk konstruiert. Jeder Band ist ein sorgfältig geformter Baustein in einer Konstruktion, die weit über das hinausgeht, was man beim ersten Lesen erfassen kann. "Der Ruf der Klingen" mag nicht mit den ganz großen Gesten aufwarten, doch er zementiert das Fundament, auf dem künftige Konflikte, Enthüllungen und emotionale Höhepunkte ruhen werden. Wer bereit ist, diesen Abschnitt als notwendige Phase der Sammlung und Vorbereitung zu begreifen, erkennt seine unverzichtbare Bedeutung für das große Ganze."Der Ruf der Klingen" ist damit weniger ein Buch der großen Explosionen als vielmehr der stillen, aber tragenden Pfeiler. Es überzeugt nicht durch atemlose Spannung, sondern durch die Sorgfalt, mit der Sanderson seine Welt neu ausrichtet, seine Figuren vertieft und den Weg für die kommenden Ereignisse ebnet. Wer bereit ist, das langsamere Tempo als Teil dieser architektonischen Meisterleistung zu begreifen, wird mit wertvollen Einblicken belohnt - und mit dem Gefühl, beim Lesen Zeuge zu sein, wie sich Stück für Stück das Fundament eines der größten Fantasy-Epen unserer Zeit festigt.