"Ist es [...] nicht erstaunlich, dass noch niemand untersucht hat, was es für die Psyche des Menschen bedeutet, wenn er sich in den Hinterlassenschaften eines eben noch verfeindeten Volks ein neues Leben aufbauen muss? Dieser Aspekt steht im Mittelpunkt meiner Betrachtung des Schicksals des ehemals Deutschen in Polen."Vorab: Dies ist definitiv kein Buch, das man einfach nebenbei liest. Nehmt euch Zeit.Vielleicht hat mich die Lektüre gerade deshalb so tief berührt, weil mir die Region, über die Karolina Kuszyk schreibt, seit jeher vertraut ist. Ich stamme aus Brandenburg - Polen war also nie weit - und schon meine Großmutter erzählte mir Geschichten aus jener Zeit, die heute nur noch in Erinnerungen weiterleben. Solche Erzählungen hinterlassen Spuren, und genau diese Spuren greift Kuszyk auf - mit einer bewundernswerten Mischung aus Feingefühl und historischer Genauigkeit.Die Autorin begibt sich auf eine eindrucksvolle Spurensuche nach dem sogenannten "Poniemieckie" = dem ehemals Deutschen. Ihre Rechercheleistung, die weit über historische Fakten hinausgeht, ist enorm. Sie hat mit Historikern, Regionalwissenschaftlern, Museumsangestellten, Aktivisten, Schriftstellern, Zeitzeugen und Nachfahren gesprochen, taucht tief ein in Archive und persönliche Erinnerungen, und zeichnet ein vielschichtiges, feinsinniges Bild davon, was geschieht, wenn Menschen sich ein neues Leben in den Hinterlassenschaften einer fremden Kultur aufbauen müssen. Dabei erzählt sie mitunter von Häusern, Dingen, Friedhöfen, und verknüpft Geschichte, Erinnerung, Identität sowie die Biografien von Menschen und Gegenständen miteinander auf so kluge Weise, dass man beim Lesen immer wieder innehält. Es ist eine ganz außergewöhnliche, stille, aber eindringliche Form der Geschichtserzählung."Dieses Buch will keine wissenschaftliche Forschungsarbeit sein. Es ist ein persönlicher Führer durch die Geschichte des ehemals Deutschen in seiner alltäglichen, häuslichen Variante; eine teilnehmende Beobachtung und Dokumentation einer Reise durch Polen [...]. Indem ich darüber schreibe, wie sich Biografien von Menschen mit Biografien von Gegenständen verflechten, möchte ich wenigstens einen Teil dessen in Worte fassen, was [...] bis jetzt noch nicht in Worte gefasst wurde.Was mich zudem sehr bewegt hat, war die Perspektive der Frauen, die sich wie ein beständiger roter Faden durch das gesamte Buch zieht, und zwar mit einer Wahrhaftigkeit, die unter die Haut geht. Die Autorin beleuchtet Biografien, die oft vergessen werden, und gibt ihnen eine Stimme.Auch die Gestaltung des Buches ist gut durchdacht: Zu Beginn jedes Abschnitts steht eine Schwarz-Weiß-Fotografie, die wie ein Tor in die Geschichte wirkt; ein Gegenstand, ein Detail, ein stilles Zeugnis. Diese visuelle Ruhe spiegelt wunderbar den Ton des Buches wider, der trotz aller historischen Schwere niemals überfordernd wirkt.Man spürt Kuszyks Leidenschaft für ihr Thema, wie viel Herzblut und Leidenschaft in diesem Projekt stecken ... sowie ihre Nähe zu Polen und Deutschland gleichermaßen. Sie schreibt sachlich, klar, manchmal fast dokumentarisch und sensibel ... und gerade das macht die Lektüre so eindringlich - denn sie urteilt nicht, sondern beobachtet, verbindet, fragt.Zum Abschluss habe ich euch noch mein Lieblingszitat herausgesucht:"Wir wissen, dass wir genauso gut in Tränen ausbrechen könnten, aber wir entscheiden uns für das Lachen, weil es uns gefällt, weil wir es einfach wollen."¿¿¿¿¿: Ein wichtiges, gleichermaßen interessantes wie zum Nachdenken anregendes Werk, das den Blick schärft für die Spuren der Vergangenheit, die uns bis heute umgeben - und dazu einlädt, über Zugehörigkeit, Erinnerung und Identität nachzudenken.