Besprechung vom 11.07.2024
In Zeiten des schwarzen Schweigens
Eine düstere, von Blut und Meeresschlick durchwirkte Welt: Aroa Moreno Duráns Roman "Ruths Geheimnis" beschreibt ein baskisches Familienschicksal.
Was bringt eine spanische Autorin dazu, sich mit den gesellschaftlichen Verhältnissen in der DDR und im wiedervereinten Deutschland zu beschäftigen? Aroa Moreno Durán hat in ihrem 2017 veröffentlichten Roman "Die Tochter des Kommunisten" das Schicksal einer spanischen Familie beschrieben, die es vor der Verfolgung durch das Franco-Regime in die DDR verschlagen hat. Das Verdienst der dreiundvierzig Jahre alten Journalistin und Schriftstellerin ist es, mit dieser Geschichte auf eine bislang wenig beachtete, von der ostdeutschen Staatsmacht als Helden des Sozialismus gefeierte, aber auch mit Misstrauen betrachtete und eher als lästig empfundene Gruppe von Migranten aufmerksam gemacht zu haben. Schon mit diesem Erstlingsroman hat Moreno Durán bewiesen, wie vielversprechend sich ihr erzählerisches Talent ausnimmt.
Die 2022 erschienene, von Marianne Gareis besorgte Übersetzung ins Deutsche ist hierzulande wohlwollend aufgenommen worden, auch wenn das Interesse an dem Roman wegen der spanisch-deutsch-deutschen Thematik größer hätte sein können. Moreno Durán schildert diese fiktive Familiengeschichte aus der Perspektive einer der Töchter nahezu geradlinig in chronologischer Abfolge, ihre Erzählsprache ist schnörkellos: kurze Sätze, lapidare Kommentare, direkte Rede ohne Anführungszeichen.
Jetzt ist auch der zweite Roman der Autorin auf Deutsch erschienen, im spanischen Original heißt er "La bajamar" (Die Ebbe), der deutsche Titel "Ruths Geheimnis" verweist auf die Schlüsselfigur und einige rätselhafte Vorgänge. Auch dieses Opus ist eine Familiengeschichte, bei der Moreno Durán es indes darauf angelegt hat, sie noch komplexer und undurchsichtiger zu gestalten als das Vorgängerwerk. Marianne Gareis hat in ihrer Übersetzung den nüchtern-lapidaren Sprachduktus des Originals auch diesmal anschaulich nachgebildet.
Die Szenerie ist nun aber eine ganz andere. Die Handlung spielt jetzt weitgehend im spanischen Baskenland, an der Mündung eines Flusses ins Meer, und ist verteilt auf die Erlebnissphären von drei Frauen aus drei Generationen einer Familie. Adirane, die jüngste, lässt Mann und Kind in Madrid zurück, um im Haus ihrer baskischen Vorfahren der Mutter (mit dem zum Verwechseln ähnlichen Namen Adriana) und vor allem der hochbetagten Großmutter Ruth Erinnerungen an frühere Zeiten abzuringen und festzuhalten. Das waren vor allem die Jahre des Spanischen Bürgerkriegs, in dem Ruths Bruder Matías im Kindesalter auf mysteriöse Weise zu Tode gekommen ist. Die unheilvolle Epoche der Kämpfe zwischen Nationalisten und Republikanern mündete gerade im Baskenland nahtlos in die Unterdrückung durch die Franco-Diktatur und in den ETA-Terror.
Die Kriegsgräuel und der Tod des Jungen versetzten die Familie in "harte schwarze Traurigkeit" und "dunkles Schweigen", das nun aber von Ruth gebrochen wird, die kurz vor ihrem eigenen Tod bereitwillig schildert, wie sie die Jahre von Gewalt und Terror samt ihrem Exil in Belgien erlebt hat. Die Erzähl- und Zeitperspektiven wechseln immer wieder, am Beginn eines jeden Kapitels erscheint immerhin ein Hinweis, auf welche der drei Frauen sich das Geschehen gerade konzentriert, Ruth schildert ihre Erinnerungen in der Ich-Form.
Es ist eine düstere, von Meeresschlick und Blut durchwirkte, von Wind durchwehte und von "grauem Regen" durchtränkte Welt, die Moreno Durán beschwört. Zu der trostlosen Atmosphäre trägt eine schmutzige Industrie bei, die der eigentlich reizvollen Landschaft arg zusetzt. "In jedem Haushalt gab es Dunkles", heißt es im Roman, weshalb die Frauen schwarze Kleidung trugen, was selbst Dreißigjährige wie Alte aussehen ließ. Männer sind in diesem Buch nur Randfiguren, sie bleiben Phantome, sind auf der Arbeit, auf der Flucht oder dem Tod geweiht.
Die Ebbe gibt im Wechsel der Gezeiten immer wieder den Blick auf den Untergrund frei. Man darf annehmen, dass der Originaltitel des Romans als symbolischer Hinweis auf dieses Zeitfenster gedacht ist, in dem die Vergangenheit auftaucht. Aber da ist immer noch der Schlick, der eine ungetrübte Sicht auf Details unmöglich macht, und bald kommt schon wieder die nächste Flut, die sicher erhascht geglaubte Spuren wieder verwischt: Vieles in der Geschichte bleibt rätselhaft.
Moreno Durán gehört zur Generation jener vorwiegend jüngeren spanischen Autorinnen und Autoren, die sich lange verdrängten Themen aus der Historie ihres Landes und damit der Vergangenheitsbewältigung zuwenden. Sie wollen gegen das Vergessen anschreiben. Auch wenn in den beiden Romanen Moreno Duráns Personen und Handlungen weitgehend fiktiver Natur sind, hat sie ganz offensichtlich zu den jeweiligen Zeitumständen, in die sie ihre Figuren versetzt, akribisch recherchiert. Das ist sie ihrer Erfahrung als Journalistin auch schuldig. Ihre Sprache ist aber trotz der nüchtern-präzisen Beschreibung alltäglicher Vorgänge oft stimmungsgenau von poetischer Dichte. Das hat sie dem granadinischen Dichter Federico García Lorca abgeschaut, über den sie eine Biographie geschrieben hat. Immerhin hat sie auch schon zwei Bände mit eigenen Gedichten veröffentlicht. JOSEF OEHRLEIN
Aroa Moreno Durán: "Ruths Geheimnis".
Roman.
Aus dem Spanischen von Marianne Gareis.
Btb Verlag, München 2024. 224 S., geb.
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