Besprechung vom 30.01.2025
Samba des Jüngsten Gerichts
Trau nicht den Tropen: Victor Heringer erkundet Hitze, Hass und Liebe in Rios Vorstädten
Die Sonne ist schuld. Sie verbrennt Erde und Gehirne, verursacht Gewaltrausch und blutige Eifersuchtsdramen und verwandelt die Erde vom Urknall an in ein Inferno: "Zu Anbeginn war unser Planet heiß, gelb und stank nach schalem Bier", diagnostiziert der Ich-Erzähler von Victor Heringers Roman bereits im ersten Satz. Selbst zählt er sich zu den Nachfahren eines mythischen Volkes, "das die Sonne verwünschte". Ja, er hat für sie eine prähistorisch anmutende Hieroglyphe gefunden, die den Text immer wieder durchzieht: Mal steht sie für das sengende Gestirn, dann wieder für spritzendes Gehirn. Etwa, wenn die Schergen der Oberschicht "nachts ihren Stress abbauen, indem sie Straßenkinder mit Pflastersteinen die Köpfe einschlagen" - Anspielung auf das Kinder-Massaker vor der Candelária-Kirche, das noch nach mehr als dreißig Jahren auf dem kollektiven Gedächtnis Brasiliens lastet.
Rio de Janeiros Vorstädte sind die Vorhölle, und den Soundtrack dazu bildet Nelson Cavaquinhos legendärer Samba "O juízo final" (Das Jüngste Gericht). Wie könnte der Weltuntergang anders beginnen als mit der Zeile "Die Sonne muss wieder scheinen"? Dem Mythos vom Tropenparadies ist nicht zu trauen. Nichts, was die selbsterklärte Cidade maravilhosa an Verführendem bietet, ist zu finden, nirgends die Strände von Copacabana und Ipanema. "Das Meer ist sehr weit weg von diesem Buch", warnt ein dem Text vorangestellter "Wetterbericht".
Wer jedoch einen Killer-Krimi mit Drogen, Gangs, Sex und Favela-Schießereien erwartet wie in Paulo Lins' Roman "Die Stadt Gottes" samt dessen Verfilmung, wird in die Irre geführt. Das Paradox des Romans von Heringer ist es, dass er eben nicht den Hass im Titel trägt, sondern "Die Liebe vereinzelter Männer"; dass der vermeintliche Höllenritt einen intimen und poetischen Kosmos in ein facettenreiches Panorama fügt: Jugendliebe, Coming-out, die Wunden der Militärdiktatur, die Traumata einer geschichtsvergessenen Gesellschaft. Erzählt wird all das auf verschiedenen Zeitebenen, vom "schmutzigen Krieg" der Militärs gegen die Zivilbevölkerung bis in die Gegenwart, aus der Perspektive einer zerbrechlichen und zugleich gebrechlichen Figur: Camilo, mit einem zu kurzen Bein geboren, muss auf Krücken durch Rios unansehnliche Nord-Zone humpeln, die Touristen allenfalls durch das Maracanã-Stadion kennen.
Es ist der Sommer 1976. Die Eintönigkeit der Ferien im Betonmeer wird für den Pubertierenden unsanft unterbrochen, als ihm unversehens ein Stiefbruder aufgezwungen wird: Cosme, etwa fünfzehn Jahre alt, Waisenkind, von Camilos Vater aus zunächst ungeklärtem Mitgefühl nach Hause gebracht. Sofort entbrennt ein unbändiger eifersüchtiger Hass, der sich in brutaler Prügelei entlädt und im Krankenhaus endet. Ebenso rasch schlägt er in Liebe um. Aus den Streithähnen wird ein leidenschaftliches Paar, das für zwei Wochen gemeinsam die erste Romanze und den ersten Sex erkundet. Ein Coming-out, das den Eltern verborgen bleibt. Von der Schar der Nachbarsjungen, die sich täglich zu Penisvergleichs- und Masturbationsritualen trifft, wird eher schulterzuckend hingenommen, dass Camilo und Cosme sich nun plötzlich küssen.
Doch die Idylle währt kurz. Bald brechen schmerzhafte Wahrheiten herein. Camilos Vater, ein Arzt, setzt sein medizinisches Können vor allem dazu ein, bei Folterungen im Militärgefängnis die Opfer so lange bei Bewusstsein zu halten, bis sie gestehen können. Zwei der Todesopfer waren offenbar Cosmes Eltern. Dann kulminiert die sexualisierte Gewalt einer vom Machotum geprägten Kultur in einem bestialischen Mord an Cosme. Obwohl der Täter von Anfang an feststeht, wird der Fall nie aufgeklärt. Der Verlust der ersten Liebe wird zum lebenslangen Trauma. Vergeblich versucht Camilo, das Unersetzliche zu ersetzen. Unter Tätern und Komplizen lebend, wird die Verstümmelung seiner Seele zur eigentlichen Behinderung. Doch abermals wählt er statt Hass die Liebe und nimmt den ahnungslosen Enkel des Täters als eine Art Ziehsohn bei sich auf.
In oft atemlosen Kapiteln rast die Handlung auf den Kulminationspunkt der Gewalt zu. Dort beginnt die Zeit förmlich rückwärts zu laufen, mit ihr auch die Kapitelzahlen. Immer wieder werden die narrativen Strukturen durch Collagen von Fotos, Dokumenten und Zeichnungen unterbrochen oder durch eine, im Sinne Umberto Ecos, schwindelerregende Liste von Liebeserklärungen, die Heringer aus Einsendungen von Lesern seines Blogs montiert hat. Was ihm in dieser Disparatheit seines Materials gelingt, ist ein faszinierender, vielschichtiger Rio-Roman, der ihn zum späten Erben des großen Carioca Machado de Assis macht. Selbst aus der Melancholie erwächst letztlich Lebensfreude.
Das gilt auch für die "Apokalypse in den Tropen". Sie ist keineswegs, wie in Petra Costas großartigem Film, das göttliche Strafgericht evangelikaler Hassprediger. Wie auch in Cavaquinhos Samba erweist sich der endzeitliche Sonnenschein letztlich als Moment gelöster Heiterkeit: "Das Licht kehrt in die Herzen zurück. Die Liebe wird ewig seid. Ich will Augen, um zu sehen, wie das Böse verschwindet. Das ist das Jüngste Gericht."
Mit diesen hoffnungsvollen Augen, die Victor Heringer auch uns als Lesern leiht, blickte er allerdings nicht auf sein eigenes Leben, das gezeichnet war von Verzweiflung und Depression. Kurz nach dem Erscheinen des Romans nahm er sich, noch nicht einmal dreißig Jahre alt, das Leben. Mit ihm verstummte eine der verheißungsvollsten literarischen Stimmen seines Landes. Was er uns hinterlassen hat, ist ein Werk, das zum Schönsten gehört, was die brasilianische Literatur jüngst hervorgebracht hat. In der lateinamerikanischen Literatur sucht es seinesgleichen. FLORIAN BORCHMEYER
Victor Heringer: "Die Liebe vereinzelter Männer". Roman.
Aus dem Portugiesischen von Maria Hummitzsch. März Verlag, Berlin 2024. 208 S., geb.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.Es wurden noch keine Bewertungen abgegeben. Schreiben Sie die erste Bewertung zu "Die Liebe vereinzelter Männer" und helfen Sie damit anderen bei der Kaufentscheidung.