
Der 5. Kanal enthält 99 Rezensionen zum DDR-Fernsehen, die Uwe Johnson zwischen dem 4. Juni und 3. Dezember 1964 für den West-Berliner Tagesspiegel verfasst hat. Im Gegenzug druckte Der Tagesspiegel das Fernsehprogramm der DDR ab. Johnson brachte mit seiner Rezensionstätigkeit somit ein in den Zeitungen der BRD und West-Berlins zu dieser Zeit marginalisiertes Thema ins öffentliche Bewusstsein: das DDR-Fernsehen. Die Kritiken zielen auf verschiedenste Sendungen, Formate und Filme. Das Spektrum reicht von der Magazin-Sendung Prisma, die über alltägliche wie besondere Schwierigkeiten in der DDR berichtete, über den politisch gefärbten Umgang der Sendung Der schwarze Kanal mit Ausschnitten aus dem BRD-Fernsehen bis hin zur Puppenfigur des Sandmännchens. Johnson liefert vor dem Hintergrund der Fernsehkonkurrenz von DDR und BRD einen anderen Einblick in die Zeitgeschichte. Er erweist sich dabei als genauer Beobachter und als scharfzüngiger Kritiker.
Der 5. Kanal erscheint als zweiter Band der Reihe Schriften in der Uwe Johnson-Werkausgabe (Rostocker Ausgabe). 1987 wurden die Rezensionen schon einmal posthum als Buch herausgebracht. Mit dem neu edierten, reichhaltig kommentierten Band können Leserinnen und Leser nun erstmals gesammelt nachvollziehen, auf welche Sendungen und Filme sich Johnson bezieht und was diese ausmachte.
Besprechung vom 05.01.2025
Immer lächelt da einer allein in sein Parteiabzeichen
Uwe Johnson schrieb 1964 für den "Tagesspiegel" eine Kolumne über das Fernsehen der DDR - ein Experiment mit seiner eigenen geteilten Identität.
Auch Uwe Johnsons kurze Karriere als Fernsehkritiker ist jetzt von der Philologie erfasst: Der Suhrkamp-Verlag hat die 99 knappen Texte, die der Schriftsteller 1964 für die Zeitung "Der Tagesspiegel" über das DDR-Fernsehen schrieb, nun innerhalb seiner historisch-kritischen Rostocker Ausgabe der Werke auf nicht weniger als 567 Seiten herausgegeben. So können sich auch in tausend Jahren, sofern es den Planeten dann noch gibt, unsere Ahnen oder Besucher von anderen Gestirnen einen Reim auf jene skurrile, leicht irre Konstellation machen, in die hinein Johnson damals rezensierte. Innerhalb ein und derselben Stadt - Berlin - gab es zwei Kommunikations- und Medienwelten, die nicht nur gegensätzlich waren, sondern auch völlig voneinander getrennt in dem Sinne, dass sie nichts voneinander wissen wollten. Wenigstens von West nach Ost war dies der Fall: Nach dem Mauerbau setzte der Springer-Verlag auch Zeitungen, die nicht zu seinem Imperium gehörten, unter Druck, dass sie das Ostfernsehen so behandelten, als gäbe es dieses nicht, dass sie also auf keinen Fall dessen Programm veröffentlichten, solange die Ostzeitungen dies nicht auch mit den Westprogrammen täten.
In dieser Lage entschloss sich der "Tagesspiegel" zu dem kühnen Schritt, den schon damals bekannten Autor Johnson, der 1959 die DDR Richtung Westen verlassen hatte, eine fast tägliche Kolumne über das DDR-Fernsehen schreiben zu lassen (und daneben auch noch trotzig das Programm abzudrucken). So bekam das Westberliner Publikum fortlaufend ethnologische Nachrichten von einem nur ein paar Hundert Meter entfernten Volksstamm und einem Sender, dessen Erzeugnisse es theoretisch selbst anschauen konnte, es aber wegen des unüberwindlich großen Systemabstands nicht tat.
Für Johnson war das wohl auch ein Experiment mit der eigenen geteilten Identität, dem doppelt fremden Blick auf die beiden deutschen Hälften, verstärkt auch noch durch die Fremdheit gegenüber dem Medium. Da er selbst keinen Fernsehapparat besaß, wurde er leihweise mit einem Imperial-Koffergerät Type 1619 Astronaut ausgestattet. Am 4. Juni 1964 erschien dann seine erste telefonisch durchgegebene Depesche.
Es ging gleich los mit dem "schwarzen Kanal" des Karl-Eduard von Schnitzler. Johnson vermeidet durchgängig das Klischeewort "Propaganda", aber er spart auf seine umwegige, trocken-ironische Weise nicht an Kritik an der manipulativen Agitation. Dem leisen Lächeln eines Nachrichtensprechers liest er eine "peinliche Vertraulichkeit ohne Grundlage und echte Beziehungen" ab und weitet diese Beobachtung dann ins Allgemeine: "Immer lächelt da einer ganz allein in sein Parteiabzeichen." Im Übrigen kommt es ihm auf die Einzelheiten an; er beschreibt die Sendung "Du und die Chemie" ebenso wie die "Tausend Tele-Tips" und die in einer "synthetisch westdeutschen Landschaft" spielenden Kriminalfilme oder das "Sandmännchen". Und er gibt den Effekt wieder, den das Aufeinandertreffen heterogener, aber durch die gemeinsame ideologische Tendenz zusammengehaltener Handlungsebenen erzeugt: "Da helfen fröhliche Rotarmisten beim Einbringen der Kartoffeln. Da gibt es Fernsehfilme, in denen gilt es nicht für anständig, mehr als eine Zigarette auf einmal von westdeutschen Durchreisenden anzunehmen, denn wer das tut, stiehlt auch Zement." Das serielle Prinzip seines großen Romanprojekts, der "Jahrestage", ist hier schon vorgezeichnet: Wo später der tägliche Rekurs auf die "New York Times" das dargestellte Leben begleiten wird, ist es hier der Sender Adlershof.
Sich selbst macht Johnson dabei in keiner Weise zum Thema. Er hat auch keine Masche für seine Kolumne, sondern stellt sich vielmehr die "stilistische Aufgabe, für jeden Schreibvorwurf einen eigenen Gestus zu erfinden". Am befriedigendsten scheint er zu finden, wenn er einmal etwas gegen die allgemeine Erwartung loben kann: etwa das True-Crime-Format "Blaulicht" ("viel Alltag") und vor allem die Magazinsendung "Prisma", die den Ehrgeiz hat, Missstände im sozialistischen Alltag abstellen zu helfen, etwa die "Verluste, die der Volkswirtschaft entstehen durch den Ankauf von Flaschen, die nicht in die Abfüllautomaten der Getränkeindustrie passen". Als Besserung in dieser Sache erreicht ist, kommentiert Johnson höchstens halbironisch: "Wer das Hochgefühl des 'Prisma-Kollektivs' würdigt, wird die Unterschiede eines solchen Journalismus zu einem westlichen begreifen."
Den spektakulären Höhepunkt seines Kritikeramts erreichte Johnson mit einem Fall von Fake News. Am 14. August meldete er, das DDR-Fernsehen habe überraschend den Beatles-Film "Yeah! Yeah! Yeah!" ausgestrahlt, die Lautstärke allerdings "geringfügig gedrosselt", aber doch: "die Eröffnung für die unterhaltenden Künste Ostdeutschlands". (Der skrupulöse Textkommentar gibt den Brockhaus-Eintrag zum Stichwort "Beatles" wieder, damit künftige Leser vom Mars wissen, worum es sich da handelt.) Der nicht amüsierten Zeitungsredaktion teilte Johnson nachträglich mit, es habe sich um einen Test gehandelt, wie viele Leser die Falschmeldung bemerken, das Ostfernsehen also überhaupt zur Kenntnis nehmen. Es war kein einziger, was Johnson verdross.
Offenbar verstand er sich tatsächlich weniger als Ethnologe denn als Dienstleister, der für das Programm der getrennten Landsleute Interesse wecken will. Mehrmals bemängelt er das mangelnde Wissen der Westbürger über den Osten. Für heutige Leser mag jedoch vor allem seine Fähigkeit beispielhaft sein, die Kritik am fremden System mit Neugier, Genauigkeit und sogar etwas Humor zu verbinden. MARK SIEMONS
Uwe Johnson: "Der 5. Kanal. Rostocker Ausgabe". Herausgegeben von Yvonne Dudzik, Andy Räder und Denise Naue. Suhrkamp, 567 Seiten
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