
Die Wiederentdeckung von Portugals wichtigster literarischer Autorin des 20. Jahrhunderts - zum ersten Mal auf Deutsch
Dora Rosário hat sich in der Trauer um ihren schon vor zehn Jahren verstorbenen Ehemann Duarte eingerichtet, der ihr und der fast erwachsenen Tochter Lisa nichts außer Armut hinterlassen hat. Doch eines Tages eröffnet ihr ihre Schwiegermutter, dass Duarte sie nie geliebt habe, und treibt damit Doras Karussell der unerreichbaren Träume und lebenslangen Verletzungen aufs Neue an.
Als der Roman 1966 erschien, stand Portugal unter der Salazar-Diktatur. Die meisten Männer waren abwesend oder handlungsunfähig, den Frauen blieb trotzdem nur die Rolle als Mutter, Tochter, Ehefrau oder Geliebte. Mit wenigen scharf konturierten Strichen entwirft Maria Judite de Carvalho ihre Figuren und lässt eine Zeit aufscheinen, die wenig Gnade zeigte und in der die Frauen auf sich selbst gestellt waren. Der grandiose Sprachrhythmus treibt die Geschichte auf die Spitze und mit schneidendem Witz lösen sich Einsamkeit und gesellschaftliche Enge in melancholischer Heiterkeit auf.
Besprechung vom 22.07.2025
Scherben im Museum
Mit doppeltem Boden: Maria Judite de Carvalhos Roman "Leere Schränke"
Tante Júlia gilt als ein wenig verrückt. Sie hat ein dunkles Geheimnis, leidet unter epileptischen Anfällen, träumt von fliegenden Untertassen. Aber genau deswegen mag Lisa ihre Tante. Die Siebzehnjährige möchte raus aus der Welt, in der sich die Mutter in ihrer frühen Witwenschaft eingerichtet hat, in der die Großmutter auf dem Sofa schläft und auch sonst wenig los ist. Lisa ist neugierig. Sie möchte Flugbegleiterin werden. Zwar nicht gerade auf fliegenden Untertassen, aber die Welt möchte sie schon sehen. Doch Flugbegleiterin darf sie erst mit achtzehn werden: "War das nicht ärgerlich?"
Lisa, so meint man lange Zeit, ist eine Nebenfigur in Maria Judite de Carvalhos einzigem Roman "Leere Schränke". Die portugiesische Autorin (1921 bis 1998) ist hierzulande gänzlich unbekannt, was daran liegen mag, dass ihr Werk hauptsächlich Erzählungen umfasst. Immerhin dürfen wir jetzt knapp sechzig Jahre nach seinem Erscheinen zum ersten Mal diesen Roman lesen, der ein weiteres Kleinod ist inmitten all der Ausgrabungen von Literatur, die Frauen im zwanzigsten Jahrhundert geschrieben haben und die nun von deutschen Verlagen dankenswerterweise entdeckt werden. Man denke etwa an Mary MacLanes "Ich erwarte die Ankunft des Teufels", Fran Ross' "Oreo" oder Alba de Céspedes' "Das verbotene Notizbuch".
In dieser Reihe ist De Carvalhos "Leere Schränke" mit knapp 160 Seiten das kürzeste, aber vielleicht das hintersinnigste. Nicht nur Lisa läuft auf ihren langen Mädchenbeinen an uns vorbei, als wäre sie nur zufällig Teil der Geschichte, auch die Erzählerin behauptet, lediglich Zaungast zu sein und mit all dem, wovon sie berichtet, nichts zu tun zu haben. Allerdings wird man, spätestens als sie zum dritten Mal ihr Unbeteiligtsein betont, misstrauisch.
Vordergründig handelt "Leere Schränke" von Dora Rosario, die mit Mitte zwanzig ihren Mann Duarte verliert und mit einem letzten Monatsgehalt zurückbleibt. Nach demütigenden Bittgängen zu sogenannten Freunden Duartes gelingt es ihr schließlich, Anstellung in einem Antiquitätengeschäft zu bekommen, das sie nur "Das Museum" nennt. Dora selbst wird zu einem Museumsstück; ihr Leben als Frau scheint vorbei, ehe es wirklich begonnen hat. Dann aber kommt es zu einer Enthüllung, einem fast novellenartig unerhörten Ereignis: Die Schwiegermutter verrät ihr, dass ihr Sohn Dora einer anderen Frau wegen hatte verlassen wollen, kurz bevor ihn der Tod ereilte. "Entschuldige bitte", sagt Dora zu ihrer Freundin, der Erzählerin, als sie ihr davon berichtet: "Ich muss wohl zerbrochen sein, eigentlich müssten hier überall Scherben von mir herumliegen."
Man könnte weiter die Handlung referieren, den kurzen Ausbruch Doras aus ihrer musealen Existenz, das Auftauchen eines Mannes, dessen bloße Anwesenheit Slogans wie "time is money" heraufbeschwört, man könnte verraten, dass es sich dabei um den Geliebten der Erzählerin handelt, dass es ein Haus in den Bergen von Sintra gibt, einen Autounfall und dass bald darauf Doras Tochter Lisa ins Spiel kommt und für eine ungeahnte Wendung der Ereignisse sorgt. Aber was "Leere Schränke" auszeichnet, sind vor allem die sprachliche Verdichtung, der von Wiebke Stoldt gekonnt übersetzte Ton scheinbarer Sachlichkeit und das Geschick, mit dem Maria Judite de Carvalho ein vermeintlich kleines Schicksal erzählt, wie nebenbei aber ein markantes Porträt der neuen Zeit in Salazars estado novo entwirft, in der sich amerikanische Lebensvorstellungen breitmachen, junge Frauen von Flugreisen träumen, ältere Frauen aber erkennen müssen, dass es, wie es in einem Vers von Paul Éluard heißt, der diesem bemerkenswerten Buch voransteht, falsche Schätze ("faux trésors") sind, die sie in ihren Schränken und Kammern aufbewahren - bloße Illusionen. TOBIAS LEHMKUHL
Maria Judite de Carvalho: "Leere Schränke".
Aus dem Portugiesischen von Wiebke Stoldt.
Verlag S. Fischer,
Frankfurt am Main 2025. 160 S., geb.
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