
Bevor er zum Totengräber seiner eigenen Partei wurde, war Grémond ein Hinterbänkler, einer, der regelrecht besessen war von Politik, ein Netzwerker und Stratege, aber einer, der es nie an die Spitze geschafft hat. Doch als die Attentate auf die Redaktion von Charlie Hebdo verübt werden, erkennt er darin die Chance, die Linke zu neuem Glanz zu führen und sie als Hüterin der Grundfeste der französischen Republik zu inszenieren: als jene Partei, die sich für eine strikte Trennung zwischen Kirche und Staat einsetzt und deshalb als Einzige den Gefahren des islamistischen Terrorismus angemessen begegnen kann. Mit der Unterstützung von Taillevent und Frayère, zwei gegensätzlichen, wenngleich gleichermaßen medienaffinen Philosophen - der eine Inbegriff des Pariser Intellektuellen, der andere der volksnahe Philosoph vom Lande - gründet er eine Bewegung, die die Republik vor ihren inneren Feinden retten soll, das Land jedoch in ein unvorhersehbares Schicksal stürzen wird.
Besprechung vom 11.09.2025
Boulevardphilosophen auf dem Weg nach oben
Wo kein Herz mehr schlägt: Aurélien Bellanger und der Niedergang der Sozialisten
Als der Publizist und Romancier Aurélien Bellanger im letzten Jahr sein Buch "Les derniers jours du Parti socialiste" vorlegte, hätte man der intellektuellen Öffentlichkeit in Frankreich kein größeres Vergnügen bereiten können. Denn der offensichtliche Schlüsselroman lud dazu ein, Gegenwartsfiguren des politisch-intellektuellen Diskurses zu dechiffrieren und sich an den Boshaftigkeiten des Autors zu erfreuen. Was in Paris rasch zum Hit der medialen Klatschküche wurde, verliert jedoch an Relevanz, je weiter man sich von der Seine entfernt. Wer nicht gut vertraut ist mit der französischen Geschichte der letzten fünfundzwanzig Jahre und den (pseudo)intellektuellen Grabenkämpfen, dürfte kaum auf seine Kosten kommen, und so staunt man nicht wenig über den Mut des Claassen Verlags, den deutschen Lesern den Roman nun - unter dem leicht verfälschenden Titel "Die letzten Tage der Linken" - zu präsentieren.
Bellanger blickt zurück auf ein Vierteljahrhundert des politisch-medialen Geschehens in Frankreich und folgt in lockerer Chronologie den großen Zäsuren eines Landes, das kaum noch regierbar scheint. Manche Ereignisse wie die Bankenkrise von 2008, die Demonstrationen der Gelbwesten oder die Covid-Pandemie spielen dabei eher eine marginale Rolle, wohingegen das Jahr 2015 mit den Anschlägen auf die Redaktion von "Charlie Hebdo" und das Konzerttheater Bataclan zum Schlüsselmoment wird.
Im Mittelpunkt des Romans steht Grémont, ein Strippenzieher der sozialistischen Partei, der zweimal bei der Aufnahmeprüfung für die illustre École nationale d'administration durchfiel, insgeheim von höchsten Staatsämtern träumt und es indes nicht einmal schafft, als Europaabgeordneter nominiert zu werden. Bestens vernetzt versucht er sich von seinem geheimnisumwitterten Parteibüro in der Pariser Rue de Solférino aus als intellektueller Vordenker zu etablieren. Die Attentate von 2015 empfindet er als Glücksfall, um die Sozialisten, die wehmütig an ihre - unterschiedlich angesehenen - Präsidenten Mitterrand und Hollande zurückdenken, an der Spitze einer neuen laizistischen Strömung zu platzieren. In Erinnerung an das 1905 beschlossene Gesetz über die Trennung von Kirche und Staat gründet der "General ohne Truppen" Grémont, für den der Politologe Laurent Bouvet Modell stand, hundertzehn Jahre später die "Bewegung 9. Dezember", die - erfolglos, wie sich herausstellt - der sozialistischen Partei ideologischen Aufschwung verleihen, der Gefahr des militanten Islamismus begegnen, sich den den Rechtsextremen zuneigenden Bevölkerungsteilen entgegenstemmen und sich im "neuen Katechismus von 'gender' und 'race'" zurechtfinden soll.
Engen Kontakt pflegt Grémont zu zwei Star- und Modephilosophen der Szene, zu Taillevent, dem Mann der Stadt, und Frayère, dem Mann vom Land, die von Frankreichs alter Größe träumen, zu allem eine Meinung haben und dafür überall mediale Plattformen finden. Unschwer zu erkennen ist, dass Bellanger damit zwei der aktuell bekanntesten französischen Medienintellektuellen - Raphaël Enthoven und Michel Onfray - porträtieren möchte.
Das hat seinen Reiz, vor allem wenn der Roman seine satirischen Möglichkeiten nutzt, süffisant aufgeblasene Tischgesellschaften, die ein Radiointendant gibt, schildert und die Frage, ob das Beste am Hummer nicht die dazu gereichte Mayonnaise sei, mindestens ebenso wichtig nimmt wie die Erörterung der dekonstruktivistischen Philosophie, der politischen Klüngeleien, der Nachwirkungen des Mai '68 und des Aufstiegs des "Kanonikers" Emmanuel Macron. Dass Parteien an Bedeutung verlieren, die Sozialisten bei den Präsidentschaftswahlen 2022 ein Debakel erleben und die Menschen für politikferne Persönlichkeiten votieren, bewegt am Ende einen der beiden Boulevardphilosophen konsequenterweise dazu, sich selbst als Kandidat für das Präsidentenamt zu positionieren.
Aurélien Bellanger verliert viele Worte, um seine Themen auszubreiten. Er lässt einen auktorialen Erzähler in einer sich kaum verändernden Tonlage räsonieren, der sich bei Hegel, Derrida & Co. gut auskennt und dazu neigt, dieses Wissen in langen, ermüdenden Dialogen auszubreiten. Alle auftretenden Figuren bleiben steril und emotionslos. Wo das Herz der Linken einst heftig pochte, ist inzwischen nur noch Kälte zu spüren. Für Bevölkerungskreise, die sich nicht in der intellektuellen Sandkiste tummeln und um Eimer und Schaufel raufen, ist in diesem Buch kein Platz.
Eine Handlung im engeren Sinn gibt es nicht, und so bedarf es viel Geduld, diesem - wie es Bellanger selbst nennt - "Ergebnis kontrafaktischer Geschichtsschreibung" irgendetwas abzugewinnen. Anklänge an Michel Houellebecq, dem Bellanger zu Anfang seiner Karriere einen langen Essay widmete, und dessen Roman "Unterwerfung" sind unverkennbar, doch mit dessen böser Brillanz haben "Die letzten Tage der Linken" leider gar nichts gemein. RAINER MORITZ
Aurélien Bellanger: "Die letzten Tage der Linken". Roman.
Aus dem Französischen von Frank Weigand. Claassen Verlag, Berlin 2025. 464 S., geb.
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