Besprechung vom 30.08.2025
Sie schreibt immer um ihr Leben
Selbstporträt als Kranich: Die französische Autorin Amélie Nothomb entwirft sich im Roman "Psychopompos" als Seelenbegleiterin ins Jenseits
Das zweiunddreißigste Buch der wunderbar exzentrischen Amélie Nothomb - in Wirklichkeit ist es womöglich das hundertachte, denn sie veröffentlicht angeblich nur jedes vierte - ist wohl ihr persönlichstes, das viele autobiographische Fragmente früherer Werke wiederaufnimmt und zusammenführt. Es ist eine erstaunliche Reflexion über das Schreiben, über Leben (ihr Leben) und Tod und die Grenzen dazwischen.
1966 oder 1967 (es herrscht Verwirrung darüber) in Japan als Tochter eines belgischen Konsuls geboren, dessen erstaunliche Geschichte sie 2021 unter dem Titel "Premier Sang" (deutsch: "Der belgische Konsul") erzählt hat, war nach einer glücklichen Kindheit in Japan aus ihrem behüteten Nest gefallen und hatte mit ihren immer weiter ziehenden Eltern durch viele Länder fliegen müssen, bis sie endlich mit siebzehn Jahren in Brüssel zu schreiben begann und mit fünfundzwanzig dank des Romans "L'Hygiène de l'assassin" ("Die Reinheit des Mörders") zu einem Shooting-Star der französischen Literatur wurde - und dann weltweit.
Seither kennen wir Amélie Nothomb in phantasievollen Outfits, mit überdimensionalen Hüten, einem Look zwischen Schneewittchen und Gothic Queen, blutrotem Mund und Vampirbemalung. Die französischen Ausgaben ihrer Bücher zieren beeindruckende Fotos ihrer Selbstinszenierungen, die uns ihr deutschsprachiges Haus, Diogenes, leider vorenthält.
Bis zu Nothombs meteorhaftem Eintritt in die literarische Welt hatte sie schon einiges überstanden: die völlige Isolation in Maos China, entsetzliche Armut in Bangladesch, Burma und Laos, eine relativ unbeschwerte Zeit in New York, eine Studienzeit in größter Einsamkeit in Belgien, eine niederschmetternde Rückkehr ins gelobte Land Japan, bis sie im Pariser Verlag Albin Michel im Montparnasse ihre "Voliere" fand, einen bis obenhin mit Büchern, Fanpost und Devotionalien vollgestellten Verschlag, in dem auch die Verfasserin dieser Rezension sie schon interviewen durfte.
Dass sie als Zwölfjährige Opfer einer schrecklichen Gruppenvergewaltigung während des Schwimmens im Golf von Bengalen wurde, als "die Arme des Meeres nach ihr griffen", wird hier nochmals erzählt und erweist sich als Trauma von Amélie Nothombs Leben, als gewaltsames Zerbrechen der Eierschale, als Trennung von Körper und Seele. Dem Unbegreiflichen und seinerzeit Unbesprochenen begegnete sie mit totaler Nahrungsverweigerung, einer fast tödlich verlaufenden Anorexie, die sie an die äußerste Grenze ihres Körpers führte, über zwei Jahre hinweg andauerte und für deren Bewältigung Nothomb dann nochmals acht Jahre brauchte.
All ihre Bücher sind Flugversuche, ist Schreiben für sie doch Fliegen. Nun, mit Ende fünfzig, überfliegt sie ihr Leben noch einmal aus der Vogelperspektive. Den Weg zum Schreiben hatte ihr Rainer Maria Rilke mit seinen "Briefen an einen jungen Dichter" gewiesen, dem sie auch hier Reverenz erweist; ja, man könnte sagen, "Psychopompos" ist ihre Botschaft an uns, Lesende wie Schreibende. Auch das berühmte Kafka-Zitat, dass ein Buch die Axt sein soll für das gefrorene Meer in uns, taucht bei Nothomb immer wieder auf, im Buch wie im Gespräch: "Mein Schreiben folgt einem inneren Thermometer." Beim Schreiben, dem frühmorgendlichen Ritual in einer Art japanischem Strahlenschutzanzug und in die immergleichen karierten Spiralhefte, sinkt ihre Körpertemperatur jedes Mal. Sie schreibt immer um ihr Leben, in einer Art Selbsttherapie.
In ihrem Roman "Soif" (deutsch "Die Passion") schlüpfte Nothomb in die Haut Jesus' am Tag vor der Kreuzigung, eines wunderbaren, zutiefst menschlichen Jesus, eines sanften Mannes, der eine schöne Frau liebt und nicht sterben will und den alle verraten, auch die, an denen er Wunder vollbracht hat. Im nächsten Buch entwarf sie dann das Heldenporträt ihres berühmten Vaters, der das Pech hatte, bei seiner ersten Diplomatenstelle als Konsul im Kongo in die größte Geiselnahme des zwanzigsten Jahrhunderts verwickelt zu werden. Patrick Nothomb, damals gerade 28 Jahre alt, war der Unterhändler der Rebellen und versuchte vier Monate lang, in endlosen "palabres" gleich einer Scheherazade das Leben der Geiseln zu retten. Amélie wird das Kind, das nach diesem Ereignis in einer Verknüpfung von Tod und Leben gezeugt wird.
Mit "Psychopompos" entsteht zunächst unbeabsichtigt der letzte Teil einer Trilogie: nach dem Buch des Sohnes und dem des Vaters nun das des Heiligen Geistes, und Psychopompos, der Seelenbegleiter, ist niemand anderes als die Autorin selbst, ist sie doch seit dem Tod des Vaters im ständigen Dialog mit ihm, sogar in einem intensiveren und wahrhaftigeren als zu seinen Lebzeiten, kann er doch jetzt erst mit seinen Gefühlen umgehen und seine Liebe zu ihr zeigen.
Seelenbegleiter ins Jenseits kennen fast alle Kulturen. Amélie Nothomb nimmt Hermes, den Götterboten, und Orpheus, der die Grenze zum Hades überschritt und auf die Erde zurückkam, als Modelle für ihre Art der Grenzüberschreitung: "Der Tod ist eine durchlässige Grenze." Ist Schreiben für sie Fliegen, dann ist Orpheus der Weg zur Kunst. Die Vorstellung, dass der Tod eines geliebten Menschen Anverwandlung statt Verlust bedeuten könnte, hat etwas Tröstliches, auch wenn das vielleicht nur in ihrer fabelhaften Amélie-Welt möglich ist.
"Psychopompos" ist eigentlich kein Roman, sondern eine Meditation, ein Stück Selbstvergewisserung im Metaphernkleid der Vogelwelt. Beginnend mit dem japanischen Kranichmärchen ihrer Kinderfrau Nishio-san überfliegt sie die Kontinente ihres Lebens, richtet ihren Arbeitstakt nach dem der Vögel, schreibt weiterhin "mit flinkem Flügelschlag" und fürchtet doch, täglich aufs Neue abzustürzen, während sie versucht, ihr "psychopompes Können" zu vertiefen, eine bessere Seelenbegleiterin zu werden, denn eine Rückkehr ins ursprüngliche Reich der Geborgenheit ist nicht möglich. "L'impossible retour" (die unmögliche Rückkehr) hieß dann auch schon ihr nächstes Buch, auf Französisch herausgekommen 2024. Und gerade erschienen in Frankreich ist als ihr vierunddreißigstes "Tant mieux". BARBARA VON MACHUI
Amélie Nothomb: "Psychopompos". Roman.
Aus dem Französischen
von Brigitte Große.
Diogenes Verlag,
Zürich 2025.
128 S., geb.
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