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Besprechung vom 04.11.2025
Nicht nur im Warschauer Ghetto
Der jüdische Widerstand in Ghettos und Vernichtungslagern ist weitgehend vergessen. Stephan Lehnstaedt setzt ihm ein unheroisches Denkmal.
Im Februar 1942 berichtete ein Mann namens Szlamek Winer im Warschauer Ghetto über die massenhafte Ermordung westpolnischer Juden durch den Einsatz von speziell konstruierten Gaswagen, die von einem ehemaligen Gutshaus in Kulmhof in einen nahegelegenen Wald fuhren. Die auf der Ladefläche der Lastwagen eingepferchten Menschen wurden dabei durch die ins Wageninnere eingeleiteten Motorabgase qualvoll erstickt. Der jüdische Pole Winer war von den Deutschen gezwungen worden, die Leichen der Ermordeten in Massengräbern zu bestatten. Nachdem ihm die Flucht aus Kulmhof gelungen war, suchte Winer im Warschauer Ghetto das jüdische Untergrundarchiv Oneg Schabbat auf, um Zeugnis von dem Massenmord abzulegen und seine Glaubensgenossen zu warnen. Anfang April 1942 dann berichtete Winer aus dem ostpolnischen Zamosc über Massenmorde im nahegelegenen Vernichtungslager Belzec nach Warschau. Kurz darauf verlieren sich seine Spuren und es wird angenommen, dass der mutige Zeitzeuge Winer selbst in Belzec ermordet wurde.
Im Ghetto Nieswiez gründete sich im selben Jahr eine lokale jüdische Widerstandsgruppe unter Führung von ehemaligen Mitgliedern zionistischer Jugendorganisationen, die sich ein Maschinengewehr beschafften, um sich im Juli 1942 gewaltsam gegen die Räumung des Ghettos zu wehren. Vielen Menschen gelang während der Kampfhandlungen die Flucht, darunter Shalom Cholawsky, einem der Anführer des lokalen Aufstandes. Er barg darauf aus einem Massengrab von Soldaten der Roten Armee eine Waffe, schloss sich sowjetischen Partisanen an und setzte den Kampf gegen die Deutschen fort. Im Ghetto Lachwa ließ der Vorsitzende des Judenrates Dov Lopatin Feuer legen, als die Deutschen mit den Massenerschießungen beginnen wollten. Im entstandenen Chaos gelang einigen Hundert Menschen die Flucht. Eine spontane Erhebung durch ein bewusst entfachtes Feuerinferno entwickelte sich Ende September 1942 auch im weiter östlich gelegenen Ghetto Tuczyn, wo mehr als 2000 Menschen die Flucht gelang.
Es ist ein Verdienst der Studie von Stephan Lehnstaedt, die Namen von unbekannten Menschen wie Winer, Cholawsky, Lopatin und von fremden Orten wie Nieswiez, Lachwa, Tuczyn einem deutschen Lesepublikum nahe zu bringen und diese in seiner Überblicksdarstellung zum jüdischen Widerstand zusammenzuführen. Lehnstaedt, Professor für Holocaust-Studien an der Berliner Touro University, diskutiert darin kritisch eine mit dem hebräischen Begriff "amidah" (im Buch als "Beharrung" übersetzt) entwickelte umfassende Widerstandsidee.
Das vor allem von dem im letzten Jahr verstorbenen israelischen Historiker Yehuda Bauer vertretene Konzept versteht "kulturelle, erzieherische, religiöse und politische Tätigkeiten" sowie das "Beharren auf Religion, Humanismus und Kultur im Angesicht der deutschen Bedrohung" als jüdischen Widerstand. Im Gegensatz dazu stand der viel engere, auf bewaffnete und den Vernichtungsprozess nachhaltig durchbrechende Gewaltaktionen fokussierte Widerstandsbegriff des amerikanischen Holocaustforschers Raul Hilberg. Lehnstaedt folgt in seiner Gesamtdarstellung wie inzwischen die gesamte Holocaustforschung einem breiteren Widerstandsbegriff, indem er eingangs eine etwaige Hilbergsche Effizienzmessung von widerständigen jüdischen Handlungen ablehnt und praxeologisch recht umfassend definiert: "Widerstand möchte die Macht des Unterdrückers mindern."
Auf gut 300 Seiten berichtet er anhand zahlreicher aus bereits veröffentlichten Quellen und auch aus fremdsprachiger Sekundärliteratur zusammengetragener Beispiele chronologisch und aus vielen west- und osteuropäischen Ländern von jüdischen Widerstandsakten, die von Ausbruchsversuchen aus Ghettos, Flucht- und Rettungsaktivitäten, bis hin zu Partisanengruppen und lokalen Erhebungen, wie den Aufständen in den Vernichtungslagern Treblinka (August 1943), Sobibor (Oktober 1943) und Auschwitz-Birkenau (Oktober 1944), reichen. Ob jüdischer Widerstand damit "spätestens 1943 zu einem Massenphänomen geworden" war, wie Lehnstaedt schlussfolgert, bleibt zweifelhaft. Vielmehr machen seine Beispiele deutlich, dass Widerstandsaktivitäten fast immer von dem Engagement und Mut Einzelner abhingen und nur selten Massen mobilisierten. Den individuellen und weniger universellen Charakter, das sporadische und weniger ubiquitäre Moment hat der jüdische Widerstand gemeinsam mit dem deutschen oder auch dem polnischen Widerstand, auch wenn sich das jüdische Volk natürlich einer sehr viel existenzielleren Bedrohung gegenübersah.
Während nur begrenzt einleuchtet, warum Lehnstaedt sowohl den Suizid als auch das schiere Überleben unter die jüdischen Resistenzhandlungen zählt, macht er am Beispiel der Aufzeichnungen von Mitgliedern des Sonderkommandos in den Krematorien von Auschwitz sehr überzeugend deutlich, warum der "Akt des Schreibens" ein höchst widerständiger war: "Es war der Aufschrei der Kultur im Horror von Auschwitz und zugleich der Versuch, die Verbrechen zu dokumentieren." Und wenn der Widerstandskanon zuletzt auch die jüdischen Soldaten der Roten Armee einschloss, wie Lehnstaedt in seinem knappen Schlusskapitel über den Wandel der geschichtspolitischen Relevanz der Erinnerung an den jüdischen Widerstand in Israel und den beiden deutschen Staaten ausführt, bleibt die Frage, warum das nicht auch für jüdische Exilanten, wie Stefan Heym oder Raul Hilberg gilt, die in der amerikanischen Armee kämpften.
Es ist ein Verdienst von Lehnstaedts Studie, zum einen die Veränderung der Intensität des Widerstands im Laufe der Jahre der Verfolgung herauszuarbeiten, je klarer den von den Nationalsozialisten als Juden definierten Menschen deren präzedenzlose Vernichtungsabsicht wurde, und zum anderen aufzuzeigen, wie sehr die Art des Widerstands auch von den sehr unterschiedlichen nationalen "Erfahrungshintergründen" der jüdischen Gemeinden in den verschiedenen Ländern Europas im deutschen Einflussbereich abhingen. Zudem verschweigt Lehnstaedt nicht die Dilemmata, denen sich der jüdische Widerstand ausgesetzt sah: Innerhalb der Ghettos und Lager war jede Gegenwehr höchst umstritten, weil man die Racheaktionen der Deutschen fürchtete. Und jüdischer Widerstand konnte auch bedeuten, dass Juden andere Juden ermordeten, solche die als Ghettopolizisten arbeiteten oder als "Kollaborateure" der Deutschen verdächtigt wurden.
Lehnstaedt erweist sich als nüchterner Chronist des bis auf den Warschauer Ghettoaufstand 1943 weitgehend vergessenen jüdischen Widerstandes ohne Hang zur Heroisierung: Viele Widerstandsaktionen scheiterten noch vor ihrer Ausführung. Es gab weder Aufzeichnungen noch Überlebende, sodass sie nie Teil der Geschichtsschreibung werden konnten. Zeitgenössische Berichte über Massentötungen, wie die von Winer aus Kulmhof und Belzec, wurden auch innerhalb der jüdischen Gemeinschaften oft als "Gräuelgeschichten" abgetan. Und selbst für Juden, denen die Flucht aus dem Ghetto gelang, bedeutete dies noch lange nicht das Ende der Verfolgung. So überlebten von den 2000 im Ghettoaufstand von Tuczyn geflohenen Menschen gerade einmal 20 das Ende des Krieges. RENÉ SCHLOTT
Stephan Lehnstaedt: Der vergessene Widerstand. Jüdinnen und Juden im Kampf gegen den Holocaust.
C.H. Beck Verlag, München 2025. 383 S.
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