Besprechung vom 12.06.2025
Ein Zaunkönig wird entlarvt
Liebe und Täuschung: Anne Enrights neuer Roman "Vogelkind" ist eine gnadenlose Persiflage auf den irischen Dichter an sich.
Wie lange es dauert, sich damit abzufinden, im Schatten eines Mannes gelebt zu haben, der lieber mit Ovid rang, als sich Haushalt und Kindern zu widmen - auch davon erzählt Anne Enrights neuer Roman. "Vogelkind" ist eine hinreißend komische und dabei bitterböse Analyse menschlicher Beziehungsgeflechte. Darauf versteht sich die irische Schriftstellerin meisterhaft. Schon in ihrer mit dem Booker-Prize ausgezeichneten Tragikomödie "Das Familientreffen" (2007) nahm sie das Gefüge einer irischen Großfamilie auseinander, und in ihrer Essaysammlung "Making Babies" dröselte sie die Klischees von Mutterschaft auf.
In ihrem achten Roman beschreibt Enright nun eine auf einzigartige Weise unglückliche Familie. Intim und zugleich vieldeutig lässt die Autorin hier drei Stimmen zu Wort kommen. Da ist zum einen die Mittfünfzigerin Carmel, deren Kindheit mit einer kranken Mutter, einer missgünstigen Schwester und einem selbstsüchtigen Vater vielfache Blessuren hinterlassen hat. Carmels Tochter Nell versucht derweil, der mütterlichen Hyperenergie durch Wegzug zu entkommen. Sie hat am anderen Ende von Dublin Quartier bezogen, lässt sich dann allerdings fahrlässigerweise auf einen gewalttätigen Liebhaber ein. Carmels Vater schließlich ist der weit über die Landesgrenzen hinaus bekannte Dichter Phil McDaragh.
Anne Enrights Porträt ist dabei keineswegs eine Hommage an den homme de lettres. Vielmehr erweist es sich als gnadenlose Persiflage auf den irischen Dichter an sich. Von seiner Generation wird Phil als der beste Lyriker seiner Zeit gefeiert, einer Zeit freilich, in der Künstler noch ungestraft als Raubtiere agieren konnten. Der stets in Tweed gekleidete Poet, dessen Gedichte vor falscher Bescheidenheit und vorgetäuschtem Kummer nur so strotzen, hat im wirklichen Leben seine Familie just in dem Augenblick verlassen, als bei seiner Frau Terry Brustkrebs diagnostiziert wurde. Mit einer Studentin, die ihn bewunderte, zog er lieber Richtung Amerika, um sich dort ein neues Leben aufzubauen. Lediglich aus einem Grund kam er noch einmal zurück in sein altes Haus: um seine Uhr zu suchen. Als er sie nicht fand, verdächtigte er seine Frau und seine Töchter, sie genommen zu haben.
Phil ist ein Dichterfürst, der den gesamten Raum im Leben für sich beansprucht. Er ist nicht nur geschwätzig und verführerisch, sondern vor allem krankhaft egoistisch. Deshalb ist er die Ursache für die allermeisten Dysfunktionen in der Sippe der McDaraghs, deren weibliche Mitglieder seinen Verrat auch Jahrzehnte später noch nicht überwunden haben. Dabei werden Terry, Carmel und Nell von Enright durchaus als starke Frauen porträtiert. Es sind die Zusammenstöße aus tragischen und komischen Momenten, aus denen sie ihre lebendigen Charakterisierungen gewinnt. Und es sind ihre scharfsinnigsten Beobachtungen menschlicher Torheit, die ihren ironischen, surrealen Witz beflügeln.
Jedes Kapitel wird aus der Sicht eines anderen Familienmitglieds erzählt. Dass die Perspektiven wechseln, wenn Phil, Carmel oder Nell ihre Sicht der Ereignisse schildern, macht die Prosa so abwechslungsreich. Mal wird in der ersten, mal in der dritten Person erzählt. Mal werden echte irische Gedichte in die Prosa eingearbeitet, mal fiktive aus der Feder von Phil, der sich besonders gern über die irische Fauna und Flora auslässt. Außerdem finden sich Übersetzungen und Briefauszüge im Roman, was ihm zusammengenommen einen fragmentarischen Charakter verleiht. Doch bei allem formalen Erfindungsreichtum behält die Autorin stets alle Fäden souverän in der Hand, wenn sie die Stimmen komplex und quer zur Chronologie verflicht.
In der Überlappung der Blickwinkel treten die Auswirkungen von Phils Abwesenheit auf seine weiblichen Nachkommen Nell und Carmel drastisch zutage. So ist es zunächst zwar komisch, wenn Carmel ihren Gefrierschrank abtaut und dabei jahrzehntealte Burger ihrer Tochter entsorgt, während sie sich auf dem Laptop altes Filmmaterial ihres Dichtervaters anschaut, der in den Achtzigerjahren Dummheiten auf eine Art von sich gab, dass die Welt sie "für weise hielt". Dann jedoch kippt die Komik der Szene ansatzlos in die Tragik einer misshandelten Tochter, die gegen einen übermächtigen und von aller Welt verehrten Vater ohnmächtig war. Als Kind erschien ihr dieser Phil sogar größer als die Welt selbst. Doch trotz dieser Erfahrung oder vielmehr deshalb wird das Opfer von einst, Carmel, Jahrzehnte später selbst die Hand gegen ihre Tochter erheben.
Drei Frauen ringen hier auf je eigene Weise mit den Enttäuschungen in ihrem Leben und versuchen trotzdem mit immer neuer Kraft, einen Platz in der Welt zu finden. Die Jüngste, Nell, ist in diesem Trio sicherlich am orientierungslosesten. Für eine Website schreibt sie Artikel über Orte, die sie nie besucht hat, und verfasst Gedichte auf Papier, da sie als digital native glaubt, nur dann hätten die Verse Bedeutung. Nell hat ihre ganz eigenen Strategien gegen den Kummer und das Unglück. Erleichterung findet sie beispielsweise darin, sich Videos von gehörlosen Kindern anzuschauen, die zum ersten Mal die Stimmen ihrer Mütter über Implantate hören.
Ihre eigene Mutter Carmel, die durch Nells Wegzug mit einer unfreiwilligen Freiheit im leeren Nest konfrontiert wird, beginnt ihre eigene Vergangenheit zu befragen. Dabei erinnert sie sich auch an das Zaunkönig-Gedicht "The Wren, The Wren", das ihr Vater ihr einst aus Amerika schickte und nach dem der Roman in der irischen Originalausgabe benannt ist. In diesem Gedicht bezeichnete Phil seine Tochter als Vogelkind. Erst die erwachsene Carmel erkennt, dass dies nicht etwa zärtlich gemeint war, sondern dass sich der Vater über die Tochter, die er verlassen hat, lustig macht, indem er ihr eine vogelähnliche Verletzlichkeit attestiert. Dass er damit Carmels Charakter restlos verfehlt, musste ihm in der Ferne freilich entgehen.
Über all diesen Gefühlsebenen schwebt also Phils Verrat. "Vogelkind" ist deshalb auf vielen Ebenen ein Roman über Abschiede. Unentwegt werden hier Beziehungen abgebrochen und Menschen verlassen. Carmel zieht ihre Tochter lieber gleich allein groß, aus lauter Angst, das gleiche Schicksal wie ihre Mutter erleiden zu müssen. Enrights Roman handelt vom Wahn der Liebe, der Kunst als Täuschung und der familiären Hölle und zeigt dabei auf anregende und subtile Weise, wie unterschiedlich Menschen auf die Wirklichkeit reagieren, in der sie sich am Ende aber alle gleichermaßen zurechtfinden müssen. SANDRA KEGEL
Anne Enright:
"Vogelkind". Roman.
Aus dem Englischen von Eva Bonné. Penguin
Verlag, München 2025. 304 S., geb.
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