Was wir wissen können: über uns, die Vergangenheit, die Zukunft, die Menschen, mit denen wir leben. Davon handelt dieser Roman. Und von der Kraft der Literatur, die uns mit der Vergangenheit verbindet.
In der Literatur hängt das Wissen der Leser vom Erzähler ab. Im ersten Teil des Buches ist es der Literaturwissenschaftler Thomas Metcalfe. Der forscht über den Dichter Francis Blundy und dessen verschollenes Gedicht "A Corona for Vivien". Der Dichter hat es am 14. Oktober 2014 im Rahmen des Geburtstagsessens für seine Frau Vivien vor einigen Gästen vorgelesen. Seither ist es verschwunden. Viele Legenden ranken sich um das Gedicht, das niemals veröffentlicht wurde. Metcalfe ist besessen von dem Dichter, diesem Immortal Dinner, und davon, das Gedicht zu finden.
"I would live with the Blundys, share with them that vital evening and recount the story, the journey through the decades of a lost poem."
Zu dem Zweck begibt er sich in die Bodleian Snowdonia Library, die den Nachlass von Blundy und Vivien (ebenfalls Literaturwissenschaftlerin) enthält.
Nun ist es aber so, dass er dies im Mai 2119 tut. Da ist es nicht ganz leicht, zur Bibliothek zu kommen - per Rad, Fähre, zu Fuß und mit der Seilbahn. Züge verkehren nicht mehr seit der großen Überschwemmung. Großbritannien ist eine Insellandschaft, die Infrastruktur löcherig. Manche Strecken sind gefährlich. Nur das Internet funktioniert gut. Und die digitalen Spuren, die die Menschen des 20. und 21. Jahrhunderts hinterlassen haben, sind vorhanden, gespeichert in Nigeria. Eine Atombombe hat für Wellen gesorgt, die das Land zerstört haben. Deutschland ist Teil von Großrussland. In den USA herrschen Warlords. Das Regierungssystem in Großbritannien dagegen ist wenigstens zivil. Metalle sind kostbar und rar. Der internationale Handel scheint zusammengebrochen zu sein. Man isst Proteinwaffeln. Schokolade ist kaum zu bekommen. Als Hochschullehrer muss man für eine Tafel drei Stunden arbeiten.
Die Erzählgegenwart ist dystopisch, die Zeit, von der Metcalfe erzählt, ist unsere vom Klimawandel bedrohte Gegenwart. In den Cotswolds, wo der Dichter und seine Frau ein Landhaus bewohnen, noch eine Idylle. In beiden Zeitebenen der Wunsch nach Liebe, der Verrat, die Schuld.
Faszinierend und amüsant, wie der Erzähler, die kleinsten Einzelheiten des Geburtstagsdinners aus Fragmenten aus dem Nachlass und digitalen Hinterlassenschaften der beteiligten Gäste zusammenpuzzelt: welche Sorte Kartoffeln aufgetischt wurde, wer wann eine Schüssel zerbrochen hat, wie viel Gin getrunken wurde, welche Geschichten erzählt wurden und, am wichtigsten für ihn, was in dem sagenumwobenen Gedicht stand. Der Biograph trägt es zusammen und macht eine Geschichte daraus. So muss es gewesen sein - oder nicht? Vielleicht ist er aber zu verliebt in seine Vorstellung von den handelnden Personen, um die Wahrheit zu finden. Der zweite Teil des Romans, erzählt von Vivien, verschiebt mit der Perspektive die Wahrnehmung. Literatur eben.
Eine erschreckende Vision der Zukunft, für die Protagonisten im 22. Jahrhundert ganz normaler Alltag. Von der Vergangenheit, der Geschichte, wie alles so geworden ist, wollen die Studenten des Unidozenten Metcalfe nichts wissen. Lesen ist eine ungeliebte Tätigkeit. Sie interessiert nur ihre Gegenwart. Womöglich fatal für sie und ihre Zukunft. Nichts Neues unter der Sonne. "Frail optimism" so kennzeichnet McEwan seine eigene Haltung zur Zukunft: "We might just scrape through."
Ein Roman mit einem ungewöhnlichen Ansatz und einer aufregenden Geschichte. Manchmal zu viel Gelehrtheit, viel Rückbezug auf Größen der englischen Literatur wie Shakespeare oder T. S. Eliot. Im ersten Drittel tritt die Handlung für mich etwas auf der Stelle, dann jedoch nimmt die Geschichte Fahrt auf und wird wirklich spannend (eine Kriminalgeschichte eingeschlossen).
Meine beiden Lieblingsromane von Ian McEwan bleiben aber Saturday und Atonement.