Über "die große Flucht der Literatur" nach Marseille im Jahr 1940 hat Uwe Wittstock eine beeindruckendes Buch geschrieben. Marie-Janine Calic verschiebt die Perspektive auf Südosteuropa und weitet den Blick. Ihr Sachbuch umfasst die Jahre 1933 bis 1941 und erzählt von den Flucht-Schicksalen einiger bekannter und vieler weniger bekannter deutschsprachiger Persönlichkeiten.
"Die Exilforschung hat sie weitgehend übersehen. Doch viele Verfolgte retteten sich nicht in den demokratischen Westen, sondern in den vermeintlich rückständigen Osten, mindestens 55 000 allein nach Jugoslawien. [...] Ihre einzige Gemeinsamkeit war, dass sie irgendwo auf dem Balkan strandeten, die meisten ohne Beziehungen, Sprachkenntnisse und Vermögen."
Unter den bekannteren Personen, deren Schicksal Calic darlegt, sind die Schauspielerin Tilla Durieux, die Schriftsteller Manès Sperber und Franz Theodor Csokor und der Maler Richard Ziegler. Nicht weniger ergreifend sind die Opferbiographien der unbekannten Gestrandeten, denen Calic nachgeht. Sie schöpft aus vielen Briefen, Tagebüchern, Akten und anderen Dokumenten und legt Wert auf die Authentizität ihrer Darstellung: "Nichts wurde erfunden und kein Zitat verändert, um den Erzählfluss oder Spannungsbogen aufrechtzuerhalten." Geschichtsschreibung ohne journalistische oder romanhafte Aufbereitung. Die Fluchtgeschichten sind deshalb nicht weniger bestürzend.
Bevor die Nazis die endgültige Vernichtung der Juden beschlossen, unterstützten sie deren Auswanderung im Rahmen ihrer Vertreibungspolitik. Der kriminelle Judenschlepper Schleich wurde von ihnen sogar ganz offiziell zum "Reisebegleiter" ernannt. Die jüdischen Hilfsorganisationen konnten nicht anders, als mit ihm zusammenzuarbeiten. Unterkünfte mussten besorgt werden, Einreisegenehmigungen und Transitvisa. Alles äußerst schwierig und gefährlich.
Calic berichtet aber auch von der Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft der Jugoslawen und Albaner und der Unterstützung durch die jüdischen Gemeinden. Ohne die hätten etwa die Menschen des Kladowo-Transportes nicht so lange durchgehalten. Die Geschichte dieser Flüchtlingsgruppe ist besonders tragisch. Die Menschen saßen in einem jugoslawischen Donauhafen fest. Der Wintereinbruch 1939 verhinderte ihre schnelle Weiterreise. Versprochene Schiffe kamen nicht, 1941 dafür die Nazis, die sie ermordeten.
Calic bettet die vielen ausgewählten dramatischen Fluchtgeschichten jeweils in die politischen Zeitläufte ein. Sie behandelt ausführlich die größeren Zusammenhänge des Weltgeschehens, die für die Flucht auf der Balkanroute von Bedeutung waren. Daneben wirken die eindringlichen Beschreibungen des "Alltags" auf der Flucht zum Teil beinahe szenisch.
Geschichte und Geschichten aus dem 20. Jahrhundert. Sehr lesenswert.