
Wer übernimmt die Spitze im Herrentennis nach dem Abgang des Ausnahme-Trios Federer/Nadal/Djokovic? Wird der zuletzt des Dopings überführte Südtiroler Jannik Sinner das Rennen um die Krone im weißen Sport machen - oder der Spanier Carlos Alcaraz? Für Autor Mark Hodgkinson ist die Antwort klar: Alcaraz. Und auch statistisch liegt "Carlitos" derzeit mit sechs Grand-Slam-Siegen vor seinem Kontrahenten. Weitere Belege? Alcaraz ist die jüngste Nummer eins der Weltrangliste. Er war der jüngste Spieler, der auf allen drei Belägen ein Grand-Slam-Turnier gewinnen konnte. Auch deshalb hat sich der Streaming-Dienst Netflix dazu entschieden, dem gerade mal 21-Jährigen eine eigene Doku zu widmen. Kommt das alles nicht ein wenig zu früh? Keineswegs, denn, so hat es Mats Wilander unlängst formuliert: "Carlos Alcaraz ist der mitreißendste Tennisspieler der Welt!"
Besprechung vom 14.10.2025
Einblicke ins Denken, Fühlen und Spielen
Sinner gegen Alcaraz: Das Duell der Tennisstars gibt es nun auch auf dem deutschen Buchmarkt - mit klarem Sieger
FRANKFURT. Seit ihrer Jugend laufen sich die beiden über den Weg. Erstmals 2019 im Talentwettbewerb, in dem der zwei Jahre Jüngere die Nase vorn hatte, dann bei kleineren Profiturnieren, als die Teenager heranreiften. Inzwischen treffen sie regelmäßig in den größten Endspielen aufeinander und lösen sich an der Spitze der Weltrangliste ab. Der gemeinsame Werdegang wird dadurch abgerundet, dass die beiden trotz ihrer Selbstdarstellung als "Feuer und Eis" eine freundschaftliche Rivalität pflegen.
Und wie es der Zufall will, kommt es zwischen dem Spanier Carlos Alcaraz (22) und dem Italiener Jannik Sinner (24) nun sogar zum Duell auf dem deutschen Buchmarkt. Erschienen sind zwei Biographien, die aus dem Englischen beziehungsweise Italienischen übersetzt wurden. Es treten gegeneinander an: "Inside Alcaraz" des renommierten Tennisjournalisten Mark Hodgkinson. Und "Sinner. Der Weg zum Weltstar" von Enzo Anderloni, Michelangelo Dell'Edera und Alessandro Mastroluca (deren Herkunft und Expertise nicht ausdrücklich erwähnt wird und sich im Laufe der Lektüre leidlich erschließt).
Wie in jedem leserfreundlichen Text über einen Wettbewerb, ob sportlich oder literarisch, wollen wir mit dem Ergebnis nicht bis zum Ende warten. Es lautet, im Duktus eines Tennismatches: Buch, Satz und Sieg für Hodgkinson. Der Verfasser einiger Tennisspielerbiographien und einstige Ghostwriter für Boris Becker wird seiner Favoritenstellung gerecht und gibt souverän Einblicke ins Denken, Fühlen und Spielen des spanischen Stars. "Inside Alcaraz" geht in die Tiefe, während "Sinner" sich in die Länge zieht.
An letztgenannter Biographie ist einiges zu bemängeln. Zum einen die Struktur. Kapitel, in denen Leben und Sportkarriere des Südtirolers so weitschweifig wie bieder nacherzählt werden, wechseln sich ab mit solchen, die "Der analytische Blick" heißen. Durch die hybride Form kommt es zu inhaltlichen Dopplungen, zudem geraten die Analysen oft zu Lobhudeleien des Fördersystems im italienischen Tennis. Was nicht verwundern kann: Wie beiläufig zu erfahren ist, spielt der Autor der betreffenden Kapitel eine maßgebliche Rolle im von ihm gelobten "Sistema Italia".
In dieser Hinsicht irritierend ist schon das Vorwort, das die Einzigartigkeit des viermaligen Grand-Slam-Champions und Weltranglistenersten für (bislang) 65 Wochen relativiert. "Es ist möglich, Sinner zu werden - und Jannik hat es gezeigt", lautet die Überschätzung des italienischen Fördersystems. So vorbildlich es auch ist, kann es nicht jedes Talent zu einem Topstar formen. Dass einer wie Sinner nicht reproduzierbar ist, wird im weiteren Verlauf des Buches auch thematisiert. Darin werden, im Widerspruch zur Ausgangsthese, immer wieder Sinners "Brillanz", "Auffassungsgabe" und "Mentalität" gepriesen, sein sportliches Ausnahmetalent als guter Fußballer, großes Riesenslalomtalent und als überragender Tennisspieler, der anfangs wenig trainierte und trotzdem ältere Kinder aus den Turnieren warf. Um so vielseitig erfolgreich zu sein, braucht es eine Naturbegabung. Sie ist selten und selbst vom besten Nachwuchssystem der Welt nicht herstellbar.
So handelt es sich bei "Sinner" um eine allgemeine Beweihräucherung, in der Distanz nicht gewollt ist. Der Dopingfall des Tennisstars wird nicht behandelt, weil das Buch im Original schon im Mai 2024 erschienen ist und kaum überarbeitet wurde. Die Autoren hätten sich vermutlich schwergetan, auf der von ihnen gepriesenen weißen Weste Sinners schwarze Flecken wahrzunehmen.
Hodgkinson dagegen weiß um die Risiken und Nebenwirkungen, denen Alcaraz in seiner Karriere ausgesetzt ist. Sein Spiel ist abhängig von seiner Stimmung, erfolgreich könne er nur sein, wenn er fröhlich sei. "Der Wunsch, auch abseits des Spielfelds Spaß zu haben, gefährdet aber seine Chance, der größte Spieler aller Zeiten zu werden", schreibt Hodgkinson, der viele Quellen ausgewertet hat.
Wie Sinner stammt auch der Spanier aus der Provinz und einem Elternhaus, das nicht vermögend war. Weil der junge Mann aus Murcia aber früh Talent und Charisma zeigte, unterstützte ihn zunächst der Chef eines spanischen Dessert- und Kuchenherstellers. Als Alcaraz zwölf Jahre alt war, wurde er schon vom Vermarktungsriesen IMG unter Vertrag genommen. Als er 15 war, trat Juan Carlos Ferrero in sein Leben: ein eher in sich gekehrter Trainer, der großen Wert auf Disziplin legt, aber Alcaraz anweist, "seinem Instinkt zu folgen und sein natürliches, angriffslustiges Tennis zu spielen".
Von Alcaraz' Ungezwungenheit, Authentizität, Leidenschaft ist bei Hodkinson viel die Rede, ebenso von seiner körperlichen Kraft und Flexibilität. Auch seine mentale Stärke, die ob seiner Neigung zur Leichtlebigkeit mitunter übersehen wird, wird ausführlich analysiert. Mit acht war Alcaraz erstmals bei einer Psychologin. Bis zu seinem 17. Lebensjahr stand bei den Gesprächen im Mittelpunkt, wie er ein Spiel empfunden hatte, nicht wie das Ergebnis zustande gekommen war. "Er sollte lernen, den Prozess seiner Entwicklung zu genießen", schreibt Hodgkinson und stellt dar, wie gut dies gelungen ist: Seinem Trainer Ferrero teilte er jeweils von Zeit zu Zeit mit, welchen Turniersieg er sich als Nächstes zutraute - und dann gewann er auch: vom ersten Erfolg auf der ATP-Tour 2021 in Umag (Kroatien), bis zu den inzwischen sechs Grand-Slam-Titeln.
"Ist es möglich, ein gewöhnlicher junger Mann und zugleich ein Unsterblicher des Sports zu sein?", fragt Hodgkinson. Bisher zeigt sich Carlos Alcaraz, trotz kleinerer Ausschweifungen und zerdepperter Tennisschläger, auf einem guten Weg. Getreu der Buchstabenfolge "CCC", die er sich auf der Innenseite des linken Handgelenks hat tätowieren lassen: Sie steht für "Cabeza, Corazón, Cojones". Dass es Kopf, Herz, Eier brauche, um erfolgreich zu sein, hat ihm der Großvater mit auf den Weg gegeben. THOMAS KLEMM
Enzo Anderloni/ Michelangelo Dell'Edera/Alessandro Mastroluca: Sinner. Der Weg zum Weltstar.
Verlag Die Werkstatt 2025, 208 Seiten, 24,90 Euro.
Mark Hodgkinson: Inside Alcaraz
Verlag Edel Sports 2025, 272 Seiten
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