»Und so tun wir das, was wir immer tun: Wir begegnen der Brutalität der Welt, indem wir sie ignorieren.«
Claire hat eigentlich alles, was sie sich je gewünscht hat. Sie arbeitet bei einem großen, angesehenen Unternehmen und das, obwohl sie aus eher ärmlicheren Verhältnissen kommt. Ihre Gedanken beschäftigen sich mit ihrem neuen Leben und lassen ihre Herkunft gewissermaßen hinter sich. Eines Tages jedoch öffnet sie die Luke über dem Bürotrakt und steigt aufs Dach. Dort genießt sie den Blick, der ihr jedoch schnell bewusst macht, welches Leben sie aktuell lebt. Claire bleibt auf dem Dach. Auch als ein Sturm aufzieht, entschließt sie sich dort oben zu übernachten. Der Wind, der um sie fliegt, lässt sie über alles Nachdenken. Ist das noch ihr Leben, das sie leben möchte? Und was hat eigentlich ihr Job aus ihr gemacht? Ganz sicher eine Frau, die sie nie sein wollte.
Als sie am nächsten Morgen durch die Luke steigen möchte, sieht sie, dass sie zugefallen ist
Wie bereits in Navarros erstem Roman findet sich eine Protagonistin an einem entlegenen Ort wieder, diesmal auf dem Dach während eines Unwetters.
Mit gewohnter sprachlicher Wucht und zugleich auf poetische Art und Weise kommt der Text daher. Er zieht die Leser*innen in den Bann, irritiert und verwirrt sie und reflektiert das Leben der Protagonistin, als Einladung zum Abwägen des eigenen Lebens und dessen Umstände. Man spürt nicht nur ihren Schmerz und die zurückgehaltene Wut, sondern meint den Sturm auf der eigenen Haut zu erahnen und ist schockiert über die Gleichgültigkeit ihrer Kolleg*innen.
Auch wenn ihr Debütroman schon komplex war, ist ihr zweiter Roman es nochmal in gesteigerter Form. Man muss sich auf den Text einlassen, ihn genau und sogar stellenweise mehrmals lesen, doch man wird belohnt. Tut man das, erlebt man einen Roman, der einen fordert und zum Nachdenken animiert, wie man ihn nur selten liest, wenn auch ihr neues Buch für mich nicht ganz an Über die See heranreicht, das mich wirklich dermaßen begeistert hat!