Eine abenteuerliche Reise von vier Schülerinnen und Schülern, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Für Mädchen und Jungen ab 10
Rocky weiß genau, was er will. Jeden Tag Döner mit Spezialsoße? Unbedingt. In den Urlaub fahren? Niemals! Doch als ein geheimnisvoller Brief in seinem Briefkasten landet, wird sein Leben völlig auf den Kopf gestellt. Plötzlich steckt Rocky mitten in einem Wissenschaftswettbewerb und in einem klapprigen VW-Bus auf dem Weg nach Danzig - heimlich, gegen den Willen seiner Mutter und auf engstem Raum mit drei ziemlich schrägen Mitschülern. Und das ist erst der Anfang . . .
Besprechung vom 25.08.2025
Im Bus nach Polen
Marie Hüttners Roman "Rocky Winterfeld"
"Komm rüber", sind die ersten Worte dieses Romans, beiläufig gesprochen und doch lange nachhallend. Marek fordert seinen Freund Rocky auf, über eine Planke zu klettern, um ein Versteck zu erreichen. Rocky aber traut sich nicht, die beiden wählen einen anderen Ort, um sich vor Mareks Eltern und Rockys Mutter zu verbergen, und werden natürlich entdeckt. Es ist der letzte Moment vor Mareks Umzug von Süddeutschland nach Polen, 1121 Kilometer entfernt. Doch im Versteck beschwören die beiden noch einmal ihre Freundschaft, im Reden über das Weltall, über Eisregenplaneten und solche, die aus Diamanten bestehen, über die Fußabdrücke der Astronauten auf dem Mond und darüber, dass es ohne Atmosphäre keinen Wind gibt.
All das, dieses gemeinsame Interesse an den Phänomenen jenseits der Erde, die lange Vertrautheit, steht mit der räumlichen Entfernung Mareks auf dem Prüfstand. Rocky, der nicht in der Lage ist, Metaphern zu verstehen oder Andeutungen jenseits des explizit Formulierten zu erkennen, hält sich an das Gesagte: An bestimmten Tagen kommunizieren sie miteinander, der Aufenthalt von Mareks Familie in Polen ist auf drei Jahre festgesetzt, und sein Freund wird ihn schon bald wieder besuchen. Als dieser Besuch abgesagt wird, entscheidet Rocky sich für den umgekehrten Weg, für eine Reise nach Polen. Als Überraschung, als späte Antwort auf Mareks Worte "Komm rüber".
Die Autorin Marie Hüttner, Jahrgang 1989, lässt Rocky erzählen und macht zugleich klar, dass sein Bericht im Präsens nicht die ganze Geschichte ist. Allerdings ist sich der Elfjährige durchaus bewusst, dass seine Sicht auf sein Leben von anderen infrage gestellt wird. Seine junge Mutter Nancy etwa, die anderen offenbar als wenig geeignet erscheint, ihr Kind zu versorgen, wirkt aus Rockys Perspektive trotz ihrer beiden Jobs, die ihr wenig Zeit lassen, zugewandt und präsent, wenn es darauf ankommt. Vor allem respektiert sie seine Eigenheiten. Und wenn er stundenlang in der Geborgenheit des großen Kleiderschranks ausharrt, dann öffnet sie dessen Tür und setzt sich zu dem Jungen.
Was Rocky am wenigsten gebrauchen kann, ist Unordnung in seiner Welt. Um sich alles Verwirrende vom Leib zu halten, misst er Distanzen oder Zeitspannen, häuft Faktenwissen an und bewegt sich am liebsten auf vertrautem Terrain in jeder Hinsicht. Die Geschichte, die ihm die Autorin zumutet, fordert ihn darum besonders heraus: Er folgt den Hinweisen rätselhafter Briefe, als deren Urheberin sich dann seine Lehrerin entpuppt, die ihn mit drei anderen Kindern, die Rocky alle fremd sind, auf eine Reise in ihrem alten VW-Bus zu einem Wettbewerb in Danzig mitnimmt. Nichts davon ist Rocky vertraut, der zum ersten Mal seine Heimatstadt verlässt, zum ersten Mal nicht im eigenen Bett schläft und den Aufbruch sogar vor seiner Mutter verheimlicht.
In dem Moment, in dem das Roadmovie einsetzt, folgt die Autorin Mustern, die im Kinder- und Jugendbuch eine lange Tradition haben, allen voran dem Motiv der zusammengewürfelten Gesellschaft von Menschen, die jeder für sich anecken und gemeinsam aneinander wachsen. Hier sind es neben Rocky der Rapper Kadir, die Aktivistin Leyla und die in ihrer alten Schule gemobbte Tess, die sich am liebsten unsichtbar machen würde und irgendwann doch ihre Stimme erhebt.
Das "Komm rüber" des Anfangs gilt für jeden von ihnen. Auch bei Rocky führt der Aufbruch, der ihn schließlich die Vergangenheit mit Marek neu bewerten lässt, zu einer ungeahnten Öffnung für seine Reisegefährten. Er sei gewachsen, findet seine Mutter, dabei, so kommentiert Rocky das, "waren wir nur fünf Tage unterwegs, das kann also gar nicht sein". Das mit den Metaphern wird ihn wohl noch eine Weile beschäftigen. TILMAN SPRECKELSEN
Marie Hüttner: "Rocky Winterfeld". Roman.
Mit Bildern von Regina Kehn. Thienemann Verlag, Stuttgart 2025. 240 S., geb., 14,- Euro. Ab 10 J.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.