
Ein frühes Meisterwerk des Nature Writing, zauberhaft bebildert von Andrea Wan.
Ausgehend von ihrer siebenunddreißig Hektar großen Farm in Ohio, die Josephine Johnson und ihr Mann in Wildnis zurücküberführt haben, beobachtet sie Monat für Monat die sich verändernde Landschaft mit der Präzision einer Naturforscherin und der Sprache einer Dichterin. Die Pracht der Landschaft blitzt auf, der unaufhaltsame Zyklus von Wachstum und Vergänglichkeit, es wimmelt von kleinen und großen Lebewesen, die parallel zu den Menschen in und mit der Natur existieren. Es entsteht eine poetische wie lebendige Reflexion, die das Wunder und die Kraft der Natur genauso einfängt wie die Zeichen ihrer Zerstörung, ihre Schönheit und Sterblichkeit ebenso greifbar macht wie die mit ihr verbundene Hoffnung. Ursprünglich 1969 veröffentlicht, hat Josephine Jonson mit diesem Buch eine zeitlose wie brillante Chronik der Jahreszeiten geschaffen.
Das erfolgreichste Buch der Pulitzer-Preisträgerin Josephine Johnson, erstmals auf Deutsch - ein immerwährender Kalender über die Schönheit der Jahreszeiten in zwölf Monats-Kapiteln.
Besprechung vom 12.10.2025
Die Schichten des Lebens
Josephine Johnsons "Ein Jahr in der Natur" ist ein radikales Werk aus den Anfängen des Nature Writing.
Von Cord Riechelmann
Der Winter sei eine Zeit der Klarheit und Schlichtheit, schreibt Josephine Johnson zu Beginn ihres "Jahres in der Natur". Der Winter sei eine gute Zeit für Anfänge, "weil es weniger Belästigung gibt, weniger Ablenkung durch die Sinne", wie sie hinzufügt. Die Äste sind noch kahl, und der Bergkamm ist noch nicht grün überwuchert. Zu sehen gibt es natürlich trotzdem etwas. Die erstaunlichen Helmspechte zum Beispiel, die sich flach an die schuppige Rinde der Wildkirschen drücken und von hinten aussehen "wie riesige Schaben mit roter Haube". Dass sich dann noch ein paar Krähen in einem wütenden Konvoi ihrer Flügel durch diese Szene quälen, weil ein großer grauer Habicht still unter ihnen hindurchfliegt, scheint dann in dieser dichten Beschreibung eher eine normale Nebensache als ein besonderes Ereignis.
Schlicht und klar ist hier aber nur die Sprache. Was hier aus einem um die 20 Hektar großen Waldgrundstück im Clermont County in Ohio an Schichten des Lebens, "von den Eiern der Schnecken bis zu den Augen der Bussarde", entfaltet wird, kann einen schon in Schwindel versetzen. Zumal man auch noch erfährt, dass das gewöhnliche Jahr in dieser Gegend, im meer- und berglosen Kernlandstaat Ohio, milde und ruhig beginnen soll. Der Januar jedenfalls, mit dem dieses in die zwölf Monate des Jahres unterteilte Buch beginnt, ist eine gute Vorbereitung auf das, was noch kommt. Es steht inmitten der gelassen genauen Naturbeschreibungen auch noch der knappe Satz, "der Krieg dauert an". Ein Satz, den 1969, als das Buch unter dem Titel "The Inland Island" in den Vereinigten Staaten erschien, jeder verstand. Es war die Zeit des Vietnamkriegs und der nicht nur amerikanischen Protestbewegungen gegen diesen Krieg. Und wo Josephine Johnson an dieser inneramerikanischen Front stand, daran lässt das Buch keinen Zweifel. Denn den außernatürlichen Kontrast zum Lebenszyklus des Marienkäfers, dem sie herzzerreißend nüchterne Zeilen widmet, bildet das Pentagon, das Verteidigungsministerium der Vereinigten Staaten. Das Pentagon ist für sie ein Betonmonster. Es sei wie der kinderverschlingende Gott Moloch, die größte unnatürliche Katastrophe der Welt. In Johnsons Welt verkörpert das Pentagon die absolute Hässlichkeit. Es wird darin nicht mal von den Vorurteilen, giftigen Religionen und Sentimentalitäten erreicht, an denen wir sonst sterben.
Wenn man das "Jahr in der Natur" in zwei große Bewegungen einteilen will, dann sind die Tiraden gegen die nordamerikanischen Religionen und überholten Regeln im Allgemeinen die Hymnen des Zorns im ewigen Wettstreit mit den Hymnen der Liebe, die der Gerechtigkeit und der Schönheit der Natur ihren Tribut zollen. Dabei sind die Erscheinungen der Natur zuerst ein Ausdruck des Lebens selbst, und im Leben steckt der Kern jeder Schönheit. Einer Schönheit, der nur nahe kommt, wer es auf sich nimmt, den Prozessen dieses Lebens als Naturereignis zu folgen, ohne in Sentimentalität zu versinken.
Und um genau das zu tun, hat die kleine, zornige Frau mit ihrer Familie auf dem Waldgrundstück in Ohio den Farmbetrieb aufgegeben. Mit dem Verschwinden der Schafe, Pferde und Rinder wird das Gelände wieder dem übergeben, was Johnson die Ökologie und ihre Wellen nennt, die schneller kommen als die Gezeiten.
Umzingelt und zunehmend eingekreist von der von Cincinnati ausgehenden, forcierten Industrialisierung und Urbanisierung bereitet sich die kleine, mittelalte Dame - Johnson ist 57 Jahre alt und etwas über 1,60 Meter groß, als sie das Buch schreibt - darauf vor, notfalls mit Pfeil und Bogen ihren kleinen, neuen Naturwald zu verteidigen und jeden Jäger zu beschimpfen, der ihr in die Quere kommt. Auch weil Johnsons Text von einer Art wehrhaftem Rückzug gegen den Krach der Zivilisation handelt, hat man ihr Buch in Amerika mit Henry David Thoreaus "Walden" verglichen. Was auch zu Teilen stimmt. Denn wie in Thoreaus Bericht von seinem Leben in einer auf das Notwendigste reduzierten Waldhütte die Geräusche der nahen Eisenbahn zu hören sind, so sind bei Johnson die lauten Verwerfungen des Kapitalismus immer als Negativfolie anwesend.
Während Thoreau aber immer der auch rational wissenschaftlich vorgehende Waldbewohner war, der jeden See genau in seiner Tiefe auslotete, ist Johnson in ihren Beschreibungen der Krähenflüge Walt Whitmans Prozessionen der Biber näher. Ohne in naturreligiöse Anwandlungen zu verfallen, sieht Johnson in den Bewegungen der Lebewesen selbst eine rhythmische Schönheit, die keine teleologischen Erklärungen benötigt, um sie wahrzunehmen. Sie können für sich selbst sprechen. Man muss ihnen keinen Zweck hinterherschreiben, um ihnen Sinn zu geben. Den Sinn erschaffen sich Krähen, Meisen oder auch das Opossum durch ihr bewegtes Leben selbst.
In diesem Sinn steht Johnson in einer Tradition des amerikanischen Nature Writing, die, anders als Thoreau und Ralph Waldo Emerson, der Philosoph der amerikanischen Naturverehrung als Schöpfungsereignis, Natur als reine Immanenz begreift. Ähnlich wie Henry Beston in "The Outermost House: A Year of Life on the Great Beach of Cape Cod" aus dem Jahr 1928, auf Deutsch als "Das Haus am Rand der Welt" 2018 herausgekommen, bleibt Johnson bei den Schichten und Wellen des Lebens selbst, ohne sie zu transzendieren.
Daraus spricht eine Haltung, die keine Angst vor Profanierungen hat und sehr genau weiß, dass sie sich in einem Verteidigungskampf befindet, den man angesichts der Gegner eben nicht den Spatzen überlassen kann. Das macht Johnsons "Jahr in der Natur" zu einem unsentimentalen Traktat für die Schönheit der in Zerstörung begriffenen Natur.
Johnsons Wahrnehmung war auf die verheerenden Folgen der Wirtschaftsweise ihrer Gesellschaft 1969 bereits exzellent vorbereitet. Sie war literarisch keine Unbekannte und ist bis heute die jüngste Pulitzerpreisträgerin Amerikas. 1935 hatte sie im Alter von 24 Jahren den Preis für ihren Debütroman "Die November-Schwestern" erhalten, der in den "Dust Bowl"-Jahren in den Great Plains spielt und das Schicksal einer Farmerfamilie beschreibt, der die menschengemachte Dürre im November die Ernte in Staub zergehen lässt. Johnsons düstere Sprache in den "November-Schwestern" ist im Wald im Clermont County in Ohio von einem lebendigen Ton überwachsen worden, der so entschieden weiß, wo die Gegner wohnen, dass es eine reine Freude ist.
Josephine Johnson: "Ein Jahr in der Natur". Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell. Aufbau, 276 Seiten
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