
Besprechung vom 08.07.2025
Als die katholischen 68er protestierten
Alina Potempa untersucht die Reaktionen auf das Verbot künstlicher Empfängnisverhütung durch Paul VI.
Man darf davon ausgehen, dass sich schon vor dem Beginn des Konklaves am 7. Mai wohl mehrere Kardinäle Gedanken über mögliche Papstnamen für den Fall ihrer Wahl machten. Vom letztlich gewählten Kardinal Robert Francis Prevost etwa wurde berichtet, dass er sich vorab mit seinem älteren Bruder am Telefon über verschiedene Namen beraten haben soll und dabei auch schon der Name "Leo" gefallen sei. Am Abend des 8. Mai wurde aus Prevost schließlich Leo XIV.
Eine historisch betrachtet recht naheliegende Wahl. Denn viele andere Papstnamen des 19. und 20. Jahrhunderts sind durch ihre Träger gewissermaßen belastet: einen Pius XIII. wird es wegen der umstrittenen Haltung des letzten Namensträgers Pius XII. (1939 bis 1958) im Zweiten Weltkrieg wohl so schnell nicht geben, genauso wenig wie einen Paul VII. Denn das öffentliche Bild des letzten Papstes mit dem Namen des Völkerapostels Paul VI. (1963 bis 1978) ist bis heute denkbar schlecht.
In der Kirchengeschichtsschreibung gilt er als Hamlet auf dem Papstthron, als Zauderer, der das noch von seinem Vorgänger als Zeichen der Öffnung der katholischen Kirche zur modernen Welt einberufene II. Vatikanische Konzil zwar zu Ende führte, sich aber im Verlauf seines Pontifikats nie so recht zwischen einer traditionalistischen und progressiven Linie entscheiden konnte.
Ziemlich kompromisslos zeigte Paul VI. sich jedoch in der bekanntesten der sieben Enzykliken seiner Amtszeit. In dem päpstlichen Lehrschreiben "Humanae Vitae" vom 25. Juli 1968 verbot der Papst den gläubigen Katholiken die Anwendung jeder Form der künstlichen Empfängnisverhütung als "verwerfliche Handlung". Die "Pillen-Enzyklika" ist bis heute mit seinem Namen verbunden und verschafft ihm gerade hierzulande ein anhaltend schlechtes Image bis hin zu Spottnamen, die auch fast fünfzig Jahre nach seinem Tod noch immer im Umlauf sind.
Welche unmittelbaren Reaktionen die Veröffentlichung von "Humanae Vitae" im Umbruchjahr 1968 auslöste und welche langfristigen Wirkungen von den Inhalten der Enzyklika für das Selbstverständnis katholischer Laien in der Bundesrepublik Deutschland ausgingen, ist Gegenstand einer aufschlussreichen Studie der Berliner Kirchenhistorikerin Alina Potempa. Darin wertet die Autorin aus den drei Bistumsarchiven Essen, Passau und München überlieferte Briefe aus, die katholische Frauen und Männer als Zeichen des Protestes gegen das päpstliche Lehrschreiben an ihre Bischöfe schrieben. "Ich weiß, daß ich für viele, viele andere spreche, bei denen Ratlosigkeit, Hilflosigkeit und Empörung herrschen", hieß es etwa in einem Brief vom 22. August 1968 an den Münchner Kardinal Julius Döpfner, seinerzeit Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz.
Neben diesen erstmals ausgewerteten, bislang unveröffentlichten Privatschreiben fließen auch Leserbriefe aus acht verschiedenen Bistumszeitungen von Bamberg bis Trier in die Untersuchung ein, um die sich seinerzeit entfaltende Protestdynamik in möglichst vielen Facetten zu veranschaulichen. Auch wenn die Kritik am Papst seinerzeit überwog, Kirchenhistoriker sprechen auch von einem "Sturm", so gehören zu einem vollständigen Bild der damaligen Zeit aber auch die wenigen zustimmenden Reaktionen, aus denen Potempa ebenfalls zitiert. Ergänzt wird das interessante Quellenkorpus durch Interviews der Autorin, in denen 14 Frauen und sieben Männer, darunter drei Ehepaare, dazu befragt wurden, wie sie sich an die Enzyklika erinnern und welchen Einfluss das päpstliche Pillenverbot kurzfristig auf ihre gelebte Sexualität und im Rückblick auf ihre katholischen Biographien hatte.
In den zeitgenössischen Reaktionen lässt sich vor allem eine Machtverschiebung konstatieren, von der traditionellen päpstlichen Autorität auch in Alltagsfragen, die schon vor 1968 angegriffen war aber in dessen Folge mehr und mehr erodierte, hin zu einer Selbstermächtigung katholischer Frauen, die sich, auch ermuntert von liberalen Geistlichen und Theologen, bei der Entscheidung für die künstliche Empfängnisverhütung auf ihr eigenes Gewissen beriefen.
Dieser Wandel resultierte nach Auffassung der Autorin auch aus dem "freiheitsaffinen Staatsbürgerdasein in der Bundesrepublik", das mit "einer autoritätsaffinen religiösen Sozialisation" in Konflikt geriet. So nachvollziehbar dieser Zusammenhang für das westdeutsche Protestgeschehen ist, so interessant wäre doch gleichsam die Gegenprobe mit dem anderen deutschen Staat dieser Zeit gewesen. Doch die DDR kommt in der Untersuchung, die im Rahmen einer DFG-Forschungsgruppe zum "Katholischsein in der Bundesrepublik" entstand, leider nur ganz am Rande vor.
Die Emotionen, die aus den ausgewerteten Briefen sprechen, in denen Frauen in bis dahin nicht gekannter Offenheit in einem emanzipativen Akt gegenüber Bischöfen vom eigenen Sexualverhalten berichten, reichten von "Bestürzung", "Enttäuschung", "Resignation", "Angst" und "Panik" bis hin zur "Verwirrung". Denn Paul VI. hatte sich mit seinem Pillenverbot über das Mehrheitsvotum einer von ihm selbst eingesetzten päpstlichen Kommission aus Theologen, Ärzten und Laien hinweggesetzt.
Außerdem sah die Enzyklika vor, Mittel zur künstlichen Empfängnisverhütung zu erlauben, wenn sie als Therapeutikum zur Krankheitsheilung eingesetzt werden. Das "Hintertürchen", dass der Papst mit dem Therapie-Artikel öffnete, stieß bei erzürnten Gläubigen aber nicht auf Wohlwollen. Als schändliches "Ausweichen vor der Problematik" bezeichnete es ein Pfarrgemeinderat aus dem Bistum Essen in einem Brief an seinen Bischof.
Selbstverständlich kam es damals zu zahlreichen Kirchenaustritten, interessanterweise aber blieben viele Katholiken in einer Art der "loyal disobedience", der loyalen Ungehorsamkeit, in der Kirche, zogen sich aber von den deren Sakramenten, etwa der Beichte und Kommunion, zurück, wie aus einigen der Briefe hervorgeht. Aus den Interviews wiederum, die ausschließlich mit Gläubigen geführt wurden, die bis heute der katholischen Kirche angehören, aber die Enzyklika dennoch als "Bruch" empfanden, spricht ein "neu gewonnenes Selbstbewusstsein in Glaubensfragen", das päpstlichen "Bevormundungen" ein Ende setzte. Für einige Interviewpartner wurde gerade die Enzyklika zum Ausgangspunkt eines innerkirchlichen (Reform)-Engagements.
Abschließend ein Wort zur Sprache der gut lesbaren und erkenntnisreichen Studie, nach der sich bei der oft einseitigen Betrachtung des Schlüsseljahres 1968 dessen spezifische katholische Protest- und Befreiungsperspektive nicht mehr länger ausblenden lässt. Bei allem Verständnis für die formellen und informellen Zwänge, denen ein staatlich gefördertes Forschungsprojekt in der Bundesrepublik inzwischen unterliegt, eine Schreibweise wie "Mitglieder:innen" irritiert doch nachhaltig (auch weil es im Text weiter "Laien" und "Gläubige" heißt), und man fragt sich unwillkürlich, welche gesellschaftliche Realität damit eigentlich abgebildet werden soll.
RENÉ SCHLOTT
Alina Potempa: Das katholische '68. Die Auswirkungen der "Pillenenzyklika" Humanae vitae auf das Katholischsein in der Bundesrepublik.
Brill Schöningh Verlag, Paderborn 2025. 227 S.
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