Besprechung vom 11.04.2019
Der große Bluff
Der Atlantikwall war ein größenwahnsinniges Unterfangen, dessen Wert schon im Zweiten Weltkrieg bezweifelt wurde. Heute verrotten die Geschützstände in Wäldern und Dünen oder kippen ins Meer. Die Fotografin Annet van der Voort hat die taumelnden Riesen besucht.
Von Klaus Simon
Mehr Beton war nie. Von Nordnorwegen bis ins Baskenland reichte das in der Lingua Tertii Imperii als Atlantikwall verklärte Küstenverteidigungswerk. Begonnen wurde mit den größten Befestigungsanlagen der Geschichte im Jahr 1942. Am Schluss säumten zwölftausend Bunkeranlagen und Geschützstände den Atlantik. Doch die gut achtzehn Millionen Tonnen Beton und gut eine Million Tonnen Stahl, die in den von den Deutschen besetzen Ländern Europas und Deutschland selbst bis 1944 am Strand, auf Klippen sowie an Flussmündungen verbaut wurden, waren nicht viel mehr als Sand in den Augen derer, die der in Berlin anfangs ausgegebenen Parole von der "Festung Europa" Glauben schenken sollten. Ein klares Wort zur Sinnlosigkeit des in seinen Ausmaßen mit dem Limes Germanicus oder der Großen Chinesischen Mauer vergleichbaren Bauwerks fand Feldmarschall Rommel, seit November 1943 Inspektor der Küstenverteidigungslinie: "Ein großer Bluff." Weder waren die alliierten Bomberverbände von den Küstenstellungen beim Anflug auf deutsche Städte aufzuhalten, noch war die Landung der Alliierten in der Normandie abzuwenden.
Ein Dreivierteljahrhundert nach Ende des Zweiten Weltkriegs lernte Annet van der Voort das zu lieben, was nach Sprengungen und Verfall vom Beton bleibt: "Taumelnde Riesen", wie die niederländische Fotografin sie nennt. Erste Berührungen mit den Überresten des größenwahnsinnigen Bauwerks hatte van der Voort als Kind in den Sommerferien an der Nordseeküste. Was sie Jahrzehnte später auf einer dreijährigen Forschungsreise von Nord- nach Südeuropa fotografierte, erinnert an antike Tempel, altgermanische Thingstätten, an Bauhausvillen, Art-déco-Lichtspielhäuser, an die Kulissen expressionistischer Filme, an den Beton brut der zweiten Moderne. So weit nichts Neues. Schon der Freiburger Architekturkritiker Christoph Hackelsberger hat auf die formale Nähe der Bunkerbauten zur expressionistischen Architektur und der Betonmoderne in den zwanziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts hingewiesen, genannt sei etwa das Goetheanum in Dornach. Besonders die nahezu unzerstörten Bauten auf den britischen Kanalinseln legen den Vergleich nah.
Der Rest ist Vanitas. Bunker versinken kraftlos in den Dünen. Maschinengewehrnester ergeben sich schütteren Holunderzweigen. Flakstellungen stürzen sich Lemmingen gleich von den Klippen. Unerbittlich läuft der Atlantik gegen den müden Beton Amok. Soll er doch.
"The Wall" von Annet van der Voort. Mit Texten von Volker Jakob. Distanz Verlag, Berlin 2019. 256 Seiten, 152 Farbfotografien. Gebunden
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