Besprechung vom 28.10.2024
Ein Mythos der Superlative
Zweifel an Indiens Aufstieg zur neuen Supermacht
Wie nähert man sich einem Konstrukt wie Indien? Das bald 1,5 Milliarden Menschen zählt, in Kulturräumen, die kaum auf ein Gemeinsames reduziert werden können und doch ein Ganzes bilden. Am Fundament: Die indische Wirtschaft, schreibt der in Indien geborene Ökonom Ashoka Mody im Vorwort seines jüngsten Buches, sei ein moralisches Gebäude. Seine Stabilität hänge davon ab, dass die Bewohner den Instinkt zur Befriedigung ihres Eigennutzes unterdrücken. Nur so könne sich Indien aus seiner ausweglosen Lage befreien.
Es ist der stille Beginn einer Abarbeitung an einem Mythos der Superlative, jener verlockenden Erzählung über die angeblich aufstrebende wirtschaftliche Weltmacht Indien, die ihre sozialen wie politischen Fallstricke überwunden habe und China sowie dem Westen ökonomisch und technologisch die Stirn bieten könne.
In seinem Buch "Das gespaltene Indien" führt der indische Ökonom Ashoka Mody über mehr als vierhundert Seiten durch die knapp 80-jährige Staatsgeschichte seines Heimatlandes. Es ist eine schonungslose Desillusionierungskur für all jene, die Indien bereits am Firmament der reichen Demokratien begrüßen. Schon seine Bestandsaufnahme ist düster: Gegen 24 der 78 Minister im Kabinett des jetzigen Premierministers Narendra Modi liefen Strafverfahren. Dabei ging es nicht um Bagatellen, sondern um Mord, Vergewaltigung und Entführung. Kriminelle Politiker korrumpieren die demokratischen Prozesse, ein erstarkender Hindu-Nationalismus setzt sich in Wahlen durch.
Das starke Bevölkerungswachstum fordert jedes Jahr rund sieben Millionen zusätzliche Arbeitsplätze, die weder Staat noch Wirtschaft bereitstellen können. Hinzu kommt ein nach wie vor miserables Bildungssystem, mit allen fatalen Folgen, die sich daraus für eine Volkswirtschaft und ihre Bewohner ergeben.
In vier großen Kapiteln beleuchtet Mody die Genese derjenigen Strukturen, die ein Staatskonstrukt und ein Wirtschaftswachstum begründen, von dem die breite Masse kaum profitiert. Vom "unechten Sozialismus" Jawaharlal Nehrus, des ersten Premierministers, über die lange Regentschaft seiner Tochter Indira Gandhi, die 1984 unter Salven von Maschinenpistolen ein blutiges Ende fand, bis zur Selbstüberschätzung der Gegenwart. Es ist eine Analyse, in der das Subjekt nicht Teil des Ökonomischen ist, sondern das Ökonomische als Ergebnis sozialen Handelns gedeutet wird.
Viel Raum widmet der Ökonom dabei dem Weltbild einer Indira Gandhi, eines Milton Friedmans oder dem Literatur-Nobelpreisträger Rabindranath Tagore, die alle auf ihre Weise auf die Geschicke des neuen Staates wirkten. Er analysiert ihre Handlungsmotive und stellt sie in den Kontext der großen wirtschaftspolitischen und gesellschaftlichen Stromlinien, die er präzise mit Daten und statistischen Einordnungen unterfüttert. Auf diese Weise gelingt ihm ein kaleidoskopischer Blick in die prägenden Etappen der Staatsgeschichte des modernen Indiens.
Ashoka Mody beginnt seine Analyse im Jahr 1947, als sich Indien die Unabhängigkeit von der britischen Fremdherrschaft erkämpft hatte. Es war ein Augenblick der Hoffnung, in dem sich die indische Bevölkerung nach einem neuen Leben sehnte. Aber auch ein Nullpunkt mit einem Machtvakuum. Solche Umbrüche sind Zeiten der Weichenstellung, in der die Machtausübung einzelner Akteure kaum durch etablierte Strukturen eingehegt werden kann. Einige wenige treffen Entscheidungen, die das Leben von Millionen beeinflussen, und bauen die tragenden Wände eines Staatskonstrukts respektive einer Wirtschaftsordnung, die hinterher schwer auszutauschen ist.
Es waren einzelne Menschen, die die Grenzen des Demokratischen ausloteten und mehrmals Indien an die Türschwelle einer Autokratie brachten. Sei es durch das Sterilisationsprogramm Sanjay Gandhis, des Sohnes von Indira Gandhi, dem Millionen zum Opfer fielen, die Selbstmordwelle der Bauern zur Jahrtausendwende oder vertuschte Morde krimineller Beamter: Das indische Volk zahlt für die autokratischen Experimente einiger weniger. Und doch legitimierte es seine Eliten durch Wahlen.
Es ist also nur klug, dass Ashoka Mody nicht bloße Zahlen über die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts zum Gradmesser des ökonomischen Erfolgs macht, sondern vielmehr Beschäftigungszahlen, die Verfügbarkeit von Arbeitsplätzen, Bildungsdaten und die Qualität öffentlicher Güter, die allesamt Aufschluss darüber geben, wer vom Wachstum profitiert. So gelingt ihm ein vielschichtiges Werk, gewoben aus ökonomischen Daten, historischen Fakten und einer soziologischen Analyse der indischen Gesellschaft und ihrer prägenden Persönlichkeiten.
Das Ökonomische verliert dabei seinen Anspruch als naturgegebenen Kosmos und wird vielmehr zur Ausprägung einer übergeordneten Moral und Ethik, die sich letztlich aus der Interaktion aller Einzelnen ergibt. "Das gespaltene Indien" wird damit auch zu einem Lehrwerk über Populismus und zu einer Auseinandersetzung mit der Rolle des Einzelnen in einer Gemeinschaft von 1,5 Milliarden Menschen. NICOLAS KURZAWA
Ashoka Mody: Das gespaltene Indien - Ein betrogenes Volk zwischen Wirtschaftspotenzial und Weltmachthype, Campus Verlag, Frankfurt 2024, 448 Seiten
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