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Besprechung vom 08.04.2025
Die Schreibstube im Krankenbau war eine Fälschungswerkstätte
Bogdan Musial untersucht auf der Grundlage umfassender Quellenstudien Funktion und Handlungsspielräume von Häftlingsärzten in Auschwitz
In seinem 2019 veröffentlichten Tatsachenbericht "Mengeles Koffer" erzählte der deutsch-polnische Historiker Bogdan Musial die Geschichte von ihm angebotenen unbekannten Dokumenten zu den verbrecherischen Menschenversuchen des berüchtigten Lagerarztes Josef Mengele im Konzentrationslager Auschwitz. Auch wenn er die Papiere, die ein jüdischer Häftlingsarzt verfasst haben sollte, als Fälschung entlarvte, war Musials Interesse für das "Gesundheitswesen" in Auschwitz und die Rolle der Ärzte und Pfleger geweckt, die als Häftlinge in den Krankenbauten des Lagers unter Aufsicht der SS ihren Dienst verrichten mussten.
In einem Grundlagenwerk geht Musial nun zahlreichen Aspekten der Zwangssituation nach, in der sich inhaftierte Frauen und Männer befanden, die als medizinisches Personal für ihre Mitgefangenen sorgen mussten, aber von den SS-Ärzten auch gezwungen wurden, an Menschenversuchen mitzuwirken, Selektionen für die Gaskammern vorzubereiten oder Kranke zu ermorden. Musial berichtet in allen denkbaren medizinischen Einzelheiten und in vielen kaum erträglichen Details von diesem ethischen Dilemma der Häftlingsärzte, die sich nicht zum Werkzeug der Deutschen machen lassen wollten, aber um ihr eigenes Überleben kämpften mussten und sich trotz akutem Mangel an Nahrung, Medikamenten, medizinischen Geräten und Hilfsmitteln und unter völlig unzureichenden hygienischen Bedingungen um eine Linderung der Leiden ihrer Mitgefangenen bemühten. An eine Anwendung der erlernten medizinischen Behandlungen durch die Häftlingsärzte war in einem auf Ausbeutung und die Vernichtung menschlichen Lebens ausgerichteten Lager wie Auschwitz nicht zu denken, sodass sich eine ganz eigene "Lagermedizin" herausbildete, die mit improvisierten und unkonventionellen Behandlungsmethoden zumindest notdürftig zu helfen versuchte.
Unmittelbar nach der Errichtung des Lagers Auschwitz im Juni 1940 auf dem Gelände und in den Gebäuden einer ehemaligen Kaserne war es von der SS zunächst untersagt worden, dass ausgebildete polnische Mediziner im Krankenbau als Häftlingsärzte beschäftigt werden. Das Lager war gerade mit dem Ziel errichtet worden, die polnische Führungselite und Intelligenz zu vernichten. Die Versorgung der Kranken unterlag deshalb meist deutschen Funktionshäftlingen, die zuvor Handwerksberufe ausgeübt hatten und über keinerlei medizinische Fachkenntnisse verfügten. Polnische und jüdische Mediziner durften bis Ende 1941 beziehungsweise Herbst 1942 allenfalls als Häftlingspfleger oder unter Angabe eines falschen Berufes als Ärzte in den Krankenblöcken des um das Vernichtungslager Birkenau und das Arbeitslager Monowitz erweiterten Lagerkomplexes Auschwitz arbeiten. Ab 1943 gab es ernsthafte und teils erfolgreiche Versuche der SS, die Häftlingssterblichkeit im Lager auch mithilfe dieser professionellen Häftlingsärzte zu senken, um keine weiteren dringend benötigten Arbeitskräfte für die Rüstungsindustrie zu verlieren.
Für seine umfangreiche Darstellung hat Musial Quellen aus mehr als zwanzig Archiven weltweit zusammengetragen. Er kann so die ganze Bandbreite ärztlichen Verhaltens von williger Kollaboration bis hin zu geheimen Sabotageakten anhand zahlreicher einzelner Biographien von Häftlingsärzten nachzeichnen. Viele seiner vor allem polnischsprachigen Quellen, unter ihnen die unveröffentlichten Manuskripte der Erinnerungen der Häftlingsärzte Wladyslaw Dering (1903-1965) und Rudolf Diem (1898-1984) und zahlreiche Prozessakten aus der Nachkriegszeit, sind in dem Buch erstmals systematisch für die Forschung ausgewertet worden. Darunter ist auch das Operationsbuch der chirurgischen Abteilung im zentralen Häftlingskrankenbau, das alle operativen Eingriffe im Stammlager Auschwitz, etwa einfache Blinddarmentfernungen, aber auch erzwungene Kastrationen, verzeichnete.
Zugleich zeigt Musial am Beispiel der in der Schreibstube des Krankenbaus ausgestellten Totenscheine, in welch gigantischem Umfang Dokumente gefälscht wurden, um die Massenverbrechen in Auschwitz zu vertuschen. Morde, etwa die verbreiteten Exekutionen durch direkte Phenolinjektionen in das Herz erkrankter Häftlinge, und Hungertode wurden durch die Angabe falscher "natürlicher" Todesursachen kaschiert. "In den Jahren 1942/43 entwickelte sich die Krankenbauschreibstube [...] zur wohl größten Fälschungswerkstatt in der Weltgeschichte", so Musial.
Durch die Etablierung einer perfiden Lagerhierarchie nach rassischen Gesichtspunkten als eine Art "Herrschaftsinstrument" gelang es den Deutschen nicht nur unter den Lagerinsassen, sondern auch unter den Häftlingsärzten nahezu jeden Gedanken an Solidarität zu zerstören und teils erbitterte Feindschaft zu stiften. Insbesondere zwischen den polnischen und jüdischen Häftlingsärzten herrschte oft ein angespanntes Verhältnis. Unter den erkrankten Häftlingen wurde in der Behandlung und in der Zuteilung medizinischer Ressourcen zwischen "Reichsdeutschen", polnischen und jüdischen Lagerinsassen unterschieden. Die Krankenbauten für die verschiedenen Häftlingsgruppen waren räumlich getrennt, und jüdische Lagerinsassen durften nur von jüdischen Häftlingsärzten betreut werden.
Zugleich wurden die Krankenbauten zu Zentren des Lagerwiderstands, weil sie zum Teil recht autonom agieren konnten. Als das Fleckfieber in Auschwitz grassierte, betraten SS-Ärzte die Krankenreviere aus Angst vor Ansteckung nicht mehr. Häftlingsärzte, die vergleichsweise gut mit Nahrungsmitteln versorgt wurden und so dem sonst allgegenwärtigen Tod durch Hunger und Entkräftung entgehen konnten, verfassten Berichte über die Geschehnisse im Lager, sammelten Papiere und Beweise zur Dokumentation der Verbrechen und hielten die Namen der verantwortlichen Täter fest. In einigen Fällen liquidierten sie besonders brutale Funktionshäftlinge und Spitzel der SS unter den Häftlingen, wenn diese als Kranke in den Krankenbau eingeliefert worden waren.
Musials chronologische Studie stützt sich vor allem auf die Zeugnisse von überlebenden Zeitzeugen unter den Häftlingsärzten, die er mit langen Zitaten immer wieder zu Wort kommen lässt. Zugleich hinterfragt er diese Quellen stets kritisch, insbesondere die Berichte von kommunistischen Überlebenden, fügt Korrekturen ein, weist auf Widersprüche hin und legt tendenziöse Aussageabsichten offen. Eine Idealisierung, gar Heroisierung einzelner Häftlingsärzte wird so zugunsten einer sachlichen, an keiner Stelle moralisierenden Bestandsaufnahme der eigentlich unlösbaren Zwangslage der Häftlingsärzte im Lagerkosmos vermieden. RENÉ SCHLOTT
Bogdan Musial: "'Lagermedizin' in Auschwitz". Funktion und Dilemmata der Häftlingsärzte 1940-1945.
Hamburger Edition, Hamburg 2024. 656 S., Abb., geb.
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