Besprechung vom 07.05.2025
Ein schwermütiger Abenteurer mit wildem Schrei
Dieser Titelheld ist einer der großen Außenseiter der französischen Literatur: Charles Nodiers Roman "Jean Sbogar" in aufgefrischter Übersetzung
Deutsche Leser schätzen Frankreichs Romanklassiker des 19. Jahrhunderts, die großen Realisten oder Zola, Maupassant, Huysmans. Unter den Autoren des "ersten" 19. Jahrhunderts, wie man in Frankreich sagt, werden jedoch die Romantiker gern übersehen; zeitlebens rasch übersetzt, seitdem aber auf dem Weg über den Rhein verloren gegangen, sind sie für Entdeckungen gut, zuletzt zum Beispiel Texte von Victor Hugo, George Sand und Théophile Gautier. Grund dafür könnte sein, dass die Romantik in Deutschland so prominent ausgeprägt war, dass sie Frankreich beeinflusste - was soll man Nachahmer lesen, wenn man das Original hat.
Dass das verkürzt ist, zeigt außer den genannten Beispielen Charles Nodier (1780 bis 1844): Sein kapitaler Roman "Jean Sbogar" ist jetzt in aufgefrischter und ergänzter Übersetzung erschienen. Der Titelheld ist einer der großen Außenseiter der französischen Literatur, seine Geschichte so spannend wie reizvoll. Nodier nähert sich ihr über Antonia de Monteleone, eine kränkelnde Schöne aus bestem Hause, die 1808 in Triest "ein unvollkommenes und verkümmertes Leben" führt. Die Waise hat mehrere Begegnungen mit dem berüchtigten Banditen Sbogar, erkennbar nicht am Aussehen, das er verbirgt, sondern an seinem Ruf - "ein wilder, schmerzlicher, zugleich so furchtbarer und kläglicher Schrei, dass er nicht von einer menschlichen Stimme herzurühren schien" - und eingängigen Volksweisen. Frau Alberti, Antonias ältere Halbschwester, bringt sie nach Venedig, in Sicherheit.
In der Lagunenstadt lernt Antonia den allseits geachteten, aber mysteriösen Lothario kennen und lieben. Der Leser ahnt es: Dieser ist niemand anders als Sbogar, der sich phasenweise in der Stadt aufhält. Obwohl Lothario Antonias Liebe erwidert, schlägt er ihre Hand aus. Dramatisch spitzt sich das Geschehen zu, als er verschwindet und die Damen heim nach Triest reisen: Ihr Schiff wird von Räubern überfallen, Frau Alberti erschossen. Die Briganten entführen Antonia auf das Schloss Duino (deutschen Lesern von Rilke bekannt), wo sich Sbogar um die von Wahnsinn Bedrohte kümmert, ohne sich zu erkennen zu geben; französische Truppen befreien sie schließlich. Antonia kommt in ein Kloster und muss beim Prozess gegen die Räuber aussagen: Es kommt zur finalen Konfrontation mit dem janusgesichtigen Helden.
Nodier greift viele für die Literatur um 1800 typische Elemente auf: Sbogar ist ein Sohn aus adeligem Hause, dessen Idealismus ihn von der gesellschaftlich akzeptierten Bahn weggeführt hat. Prototypisch verkörpert er den romantischen Ausnahmemenschen: "Als Feind gesellschaftlicher Zwänge, welche die Entfaltung seiner glühenden Empfindsamkeit unterdrückten, war er in Wahrheit nur er selbst, wenn er den gesellschaftlichen Kreis verlassen hatte und allein mit der Natur und in Freundschaft dem Sturm seiner oft bizarren Gedanken ihren Lauf lassen konnte - Gedanken, die stets kraftvoll und freimütig, manchmal auch groß und wild wie die Wüste waren, die ihn inspirierte." Noch als Räuber ist Sbogar ein guter Mensch: Schillers Karl von Moor, in Frankreich seit den 1780ern bekannt, hat Pate gestanden. Zugleich bereitet Nodier dadurch, dass er Sbogars zwiegespaltene Persönlichkeit in ein Doppelgängermotiv auftrennt, den Weg für Dr. Jekyll und Mr. Hyde.
Antonia als kränkliche Liebende an der Schwelle zum Tod, als verklärte Existenz am Rande des Wahns, erscheint so einschlägig wie die Vorahnungen, die unvermittelt Besitz von ihr ergreifen: "(...) es war etwas Dunkles, Unbestimmtes, worin etwas von einer Rückerinnerung, von einem Traum oder Fieberanfall lag. Ihr Busen war in heftiger Wallung, ihre Glieder wurden starr, ihre Augen trübten sich, und eine unerklärliche Mattigkeit ergriff wie ein Zauber ihren ganzen Körper." Dieser schaurigen Seite stehen idyllische Venedig- und Naturschilderungen gegenüber, die den Roman abrunden. Anders als in vielen Texten der deutschen Romantik ist der historische Kontext spürbar präsent.
Nodiers Schilderungen beruhen auf eigener Anschauung: In den Jahren 1812 und 1813 hielt er sich mit Frau und Tochter in den sogenannten illyrischen Provinzen des napoleonischen Kaiserreichs auf, war Bibliothekar in Ljubljana, weilte in Triest; "Jean Sbogar" soll wesentlich in dieser Zeit entstanden sein, auf Grundlage eines Kriminalfalls; Nodier, Sohn eines Richters, hatte eine Ader für Justizchroniken. Bei Erscheinen 1818 war das Buch ein großer Erfolg; die Legende will, dass Napoleon, mittlerweile auf Sankt Helena im Exil, es in einer einzigen Nacht verschlungen habe.
Nodier hat ein umfangreiches und vielfältiges Werk geschaffen. Bekannt sind heute die späteren Erzählungen "Smarra" (1821) und "Die Krümelfee" (1832); er soll die Phantastik nach Frankreich gebracht haben. Sicher ist, dass Nodier eine Schlüsselstellung zwischen der frühen Romantik Chateaubriands und Madame de Staëls einerseits und den Nachfolgern, von Hugo bis zu den Jeunes-France (etwa Gautier und Nerval), andererseits darstellt; von 1824 an empfing er, mittlerweile Bibliothekar im Arsenal, den romantischen "Cénacle", zu dem neben Hugo Lamartine, Sainte-Beuve, Dumas, Mérimée, Balzac und andere gehören. Allerdings sollte Hugo ihn bald nachhaltig in den Schatten stellen. Nodier kam so die etwas undankbare Rolle des Mittlers und Wegbereiters zu: Jean Sbogar ist wichtig als Vorgänger, etwa von Hugos Outlaw Hernani.
Auch das ist verkürzt, "Jean Sbogar" weckt mehr als literarhistorisches Interesse: Er besticht durch schlanke, zielgerichtete Handlung und effektvolle Tableaus, die melancholische und unheilschwangere Stimmungen erzeugen. Nodiers Stil ist gemessener als Hugos, und die Übersetzung wird seiner eleganten Ausgewogenheit gerecht. Der kleine Heidelberger Flur Verlag greift dabei auf eine Übertragung aus dem Jahr 1835 zurück, die 1914 erstmals überarbeitet wurde. Die aktuelle Fassung der Verlegerin Alexandra Beilharz überzeugt stilistisch, ist den früheren aber besonders darin überlegen, dass sie Kapitel XIII übersetzt, das ganz aus einem Notizbuch Sbogars besteht: Dort hält er seine philosophischen und sozialkritischen Gedanken fest; der Einblick ist für den Charakter unverzichtbar, frühere Übersetzungen hatten das Kapitel dennoch weggelassen. Nun jedenfalls spricht alles dafür, den schwermütigen Abenteurer Sbogar wiederzuentdecken. NIKLAS BENDER
Charles Nodier: "Jean Sbogar. Ein romantischer Räuberroman".
Deutsch von A. v. Hogguer und J. Mumbauer, überarbeitet, teils neu übersetzt von Alexandra Beilharz. Flur Verlag, Heidelberg 2024. 248 S., geb.
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