Besprechung vom 14.06.2025
Denke an die Gelenke!
Es ist das komischste Knie der Weltpoesie. Nie war ein Knie souveräner, autonomer, und nie war ein Knie einsamer. Christian Morgensterns Gedicht "Das Knie" aus den 1905 erschienenen "Galgenliedern" inszeniert einen Körperteil und ignoriert frohgemut das Ganze des menschlichen Körpers. "Denke an die Gelenke!", scheint es zu flüstern. Sie sind so nützlich und für die Bewegung unentbehrlich und dabei so fragil. Und bewegen tut sich dieses Knie wirklich, durch nicht weniger als die Welt.
Es ist aber auch eine Verkörperung der Negation, denn wer könnte überhören, dass im Knie die temporale Bestimmung "nie", die Verneinung der Zeit, eingeschrieben steht. Es ist die wandelnde Negation. Definiert wird es mit viermaligem Nachdruck durch das, was es nicht ist: nicht Gewächs in Baumgestalt, nicht provisorische Behausung in Zeltform. Es ist eben einzig ganz und gar und um und um es selbst. Es will keine Symbolik, es ist keine Allegorie, es ist nur, was es ist: "sonst nichts". Und dann noch dieses viermal gehämmerte "kein", das im grammatischen Kauderwelsch ein "Indefinitartikel" heißt. Das ist wiederum eine ganze Menge Negation.
Auch die Ordnung schaffende Instanz des Reims wird umgestülpt oder zerrüttet: Die Welt reimt sich nur gerade zufällig und beiläufig auf das Zelt, das nun wirklich keinerlei Bezug zum Knie hat. Ebenso gut könnte man die Fernsehantenne mit dem Hühnerei vergleichen. Der Baum schafft es nicht einmal mehr ans Ende im Raum, in den Reim.
Beim russischen Dichter Joseph Brodsky gibt es ein Gedicht aus dem Jahr 1971 ("Dass das Schicksal ein Spiel ist, war mir immer schon klar. / Wozu brauchen wir Fisch? Es gibt doch Kaviar"), das die Redefigur des "pars pro toto" - ein Teil steht für das Ganze - auf haarsträubende Weise ad absurdum führt: "Ich meinte, der Wald sei vom Holzscheit bloß ein Stückchen. / Wozu das ganze Mädchen? Ein Knie kann doch entzücken . . . ". Wenn das Ganze nur ein Teil des Teils ist, gleiten wir in eine verkehrte Welt. Der Sturz der Hierarchien ist seit jeher ein Süßstoff der Poesie.
Das Knie wird bei Brodsky erotisiert, eher fetischisiert, damit steht der moderne Dichter durch einen einzigen Vers in der Tradition der "Blason"-Dichtungen französischer Renaissance-Poeten des 16. Jahrhunderts, die sich einen einzelnen Körperteil der Geliebten - von Kopf bis Fuß, und nichts wird ausgelassen - wählten und ihn ausführlich und bildertrunken in ihre Verse bannten.
Morgenstern ist weit davon entfernt, das Knie zu erotisieren, es entbehrt bei ihm jeden Sex-Appeals. Dem in absurder Loslösung vom menschlichen Körper inszenierten Gelenk wird jedoch zart eine Empfindung angedichtet: Es geht einsam, es wandelt jenseits aller Begleitung und Gesellschaft. "Das Knie allein": erneut diese umfassende Einsamkeit, selbst in seinem erstaunlichen Verschontbleiben von jeglicher Verletzung. Es ist ein stilles, sensibles Knie, das durch das irdische Jammertal schreitet und dennoch nie klagt. Die Realität bricht in Gestalt des Krieges, dieser Höchstform menschlicher Idiotie, ein ins Gedicht. Die totalisierende Steigerungsform des "um und um" im Falle eines getöteten Menschen ist absurd wie alles in dem Gedicht, denn die Verbform "erschossen" wäre eigentlich final genug. Der Mann bleibt anonym, er ist ein Cousin des unbekannten Soldaten.
Morgenstern schafft es in seinem komischsten Meisterstück, unser Mitleid zu stimulieren (das ist der zweite Süßstoff der Poesie, nach der Verkehrung der Hierarchien). Dem Knie als einem Körperteil weltweiter Vereinzelung wird aber auch permanente Unverletzlichkeit angedichtet. Es ist die Inkarnation des Tricksters, der es schafft, noch aus jeder Situation heil hervorzugehen. So intakt wie unversehrt erwächst ihm eine verblüffende Größe in seiner radikalen Autonomie. So wird es also noch lange einsam weitergehen, in der Eigengesetzlichkeit des Individuums, die auch seine Vereinzelung bedeutet.
Selbst eine hypothetische Heiligung erfährt das Knie, und jetzt kommt doch Religiöses ins Spiel. Denn auf die Knie zu fallen oder die Knie zu beugen, ist der physische Ausdruck tiefer Demut in einem religiösen Kontext, der auch historisch-politische Ausmaße in der Bitte um Vergebung annehmen kann. Denken wir nur an Willy Brandts Kniefall in Warschau im Jahr 1970.
In den letzten Jahren aber greift ein missbräuchlicher Ausdruck der Begeisterung um sich, der selbst für das Allerprofanste die religiöse Demutsgeste einfordert. Bewunderung und Verblüffung heischen selbst alltäglichste Gegenstände, kulinarisch Gelungenes oder Gesungenes beansprucht ironisch diese religiöse Aura. Morgensterns komischstes Knie der Weltpoesie könnte so ein Fall sein. Zum Niederknien.
Christian Morgenstern: "Gesammelte Werke". Hrsg. von Klaus Schuhmann. Anaconda Verlag, Köln 2021. 784 S., geb., 9,95 Euro.
Von Ralph Dutli ist zuletzt erschienen: "Alba. Gedichte". Wallstein Verlag, Göttingen 2024. 199 S., geb.
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