
Besprechung vom 26.08.2025
Nietzsche neu gelesen
Warum eine Kirchenpräsidentin Nietzsches Kritik am Christentum ernst nimmt
Friedrich Nietzsche war Kind und Enkelsohn evangelischer Pfarrer. Er wuchs in christlicher Frömmigkeit auf. Als Junge erlebte er das Siechtum und den frühen Tod des Vaters und seines kleinen Bruders. Nietzsche deutete diese Schicksalsschläge zunächst im Rahmen erlernter frommer Erklärungen. Nach dem Abitur begann er ein Theologiestudium, wechselte aber schon bald an die philosophische Fakultät. Philologisch geschult wandte er sich gegen das ihm vertraute Christentum und wurde einer seiner schärfsten Kritiker. Die Ethik der Nächstenliebe, das Eintrichtern von Schuldgefühlen und weltverneinende Tendenzen stießen ihn ab.
Doch genau besehen ließ Nietzsche das Christentum nicht hinter sich. Das ist die These der Präsidentin der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN), die vor ihrem Amtsantritt in diesem Jahr ein Buch über Nietzsche geschrieben hat. Tietz hat dieses Buch in Sils Maria verfasst, jenem kleinen Dorf im Engadin, in dem Nietzsche viele Sommer verbrachte. Dort hat sie, noch als Professorin für Systematische Theologie, über seine Kritik am Christentum nachgedacht: "Seine Antworten trug er mit sprachlicher Wucht vor. Sie werfen Fragen auf, die nicht nur die Kirche seiner Zeit betreffen, sondern auch uns heute."
Nietzsche zu Wort kommen zu lassen mit dem, was er sagt, und seine Argumente im Kontext ihrer Zeit zu verorten, ohne sie zu bewerten, bedeute, seinen Lebensweg mit einem empathischen Blick zu betrachten und ihm erst einmal zuzuhören, schreibt sie - und das hat sie in ihrem im Beck-Verlag erschienenen Buch getan. Wer heute öffentlich für das Christentum eintrete, müsse sich auch mit seinen radikalsten Kritikern auseinandersetzen. Und wer Kirche leite, sollte bereit sein, in ihre Spiegelbilder zu schauen, auch wenn man auf den ersten Blick meine, einen Zerrspiegel vor sich zu haben, findet Tietz. In einer Gegenwart, in der religiöse Bindung abnehme und die Zahl der Kirchenmitglieder sinke, bleibe die Auseinandersetzung mit solcher Kritik unerlässlich. Vielleicht liege gerade darin eine neue Möglichkeit, Glauben zur Sprache zu bringen: im offenen, nicht abwehrenden, sondern ernst nehmenden Dialog mit denen, die sich kritisch vom Christentum abwenden oder ihm fremd gegenüberstehen.
Tietz gelingt das in ihrem Buch durchaus. Etliches von Nietzsches Kritik am Christentum seiner Zeit - und auch an manchen Ausprägungen heute - sei berechtigt. Mit seiner Ablehnung eines weltflüchtigen Christentums, das sich auf das Jenseits fokussiert, treffe Nietzsche einen Nerv. Er sehe zu Recht, dass Glaube dazu verleiten könne, vor den Aufgaben in dieser Welt in ein besseres Jenseits zu fliehen, statt sich verantwortungsvoll um eine Verbesserung dieser Welt zu bemühen. Auch seine Wahrnehmung einer Mitleidsmoral, die sich am Elend des anderen ergötze, und einer Nächstenliebe, die den anderen klein und schwach halte, treffe Züge des Christentums, die aus Tietz' Sicht ebenfalls überwunden werden sollten: "Von Nietzsche muss man sich dazu auffordern lassen, so zu helfen und zu geben, dass der andere nicht in Abhängigkeit gerät, sondern in seinem eigenständigen Tun gestärkt wird."
Als hochsensibler, feinfühliger Mensch setzten Nietzsche die frühen Tode seines Vaters und seines Bruders sowie seine eigene Krankheit schwer zu. Die von seiner Familie dafür vorgeschlagene pietistische Deutung machte es für ihn nur noch schlimmer: Was sollte das für ein Gott sein, der angeblich die kleinsten Dinge im Alltag lenkte und doch den Vater nicht retten konnte? Wie kann ein solcher Gott gut sein und wie allmächtig? Nietzsches ernüchternde Antwort war: Gott kann nicht existieren. Tietz greift das auf und weist darauf hin, dass die heutige Theologie auf die Frage nach der Rechtfertigung Gottes noch weitere Antworten kenne und Gottes Allmacht und die Macht der Menschen anders denke: "Hinter dem Leid, das geschieht, steht oft - wenn auch nicht immer - schlicht menschliches Versagen. Gottes Allmacht muss nicht so gedacht werden, dass alles, was in dieser Welt geschieht, direktes Wirken Gottes wäre. Gott schickt nicht das Leid, sondern ist den Menschen in ihrem Leiden nahe."
Tietz' Buch ruft uns an Nietzsches Beispiel zu: Gottes Liebe hört niemals auf. Während menschliche Liebe an Leid zerbrechen kann, wird Gottes Liebe durch nichts, was Menschen erleiden müssen, beeinträchtigt oder zerstört. Anders als der Gott, den Nietzsche kennenlernte, aber auch anders als Nietzsches Gedanke der Wiederkehr des Gleichen lässt dieser Gott dem Menschen die Freiheit, sein Leben selbständig zu gestalten.
An manchen Stellen ist direkte Kritik an Nietzsche angebracht, und Tietz zählt diese Stellen nüchtern auf: Seine Ablehnung der Gleichheit aller Menschen vor Gott, seine Zurückweisung der Rechte auch von Schwachen und seine Verachtung der Nächstenliebe werden heute von vielen auf erschreckende Weise unterstützt.
Eine Welt ohne Nächstenliebe aber, in der sich das Recht des Stärkeren durchsetzt, wird die Hölle, stellt Tietz fest. Ihr Fazit: Manches an Nietzsches Christentumkritik ist auch heute berechtigt, sodass das Christentum nachhaltig von ihm lernen kann. Aber wo für Nietzsche die Ablehnung des Christentums die einzige vernünftige Konsequenz war, bietet die Theologie statt Denkverboten andere Denkmöglichkeiten an, wie das beschriebene andere Verständnis von Gottes Allmacht. An wieder anderen Stellen ist schließlich Kritik an Nietzsche geboten.
"Der Glaube an Gott hat eine kontrafaktische Kraft, die sich mit den Zuständen nicht abfindet. Er hält daran fest, dass Gott dieser Welt und ihren Menschen freundlich zugewandt bleibt, auch wenn davon im Moment wenig zu sehen ist. Darum setzen sich Christinnen und Christen für eine bessere, der Existenz Gottes weniger widersprechende Welt ein", schreibt Tietz. Wie wahr. Auch Nietzsche wurde das Christentum als Thema übrigens nicht los. In eigenen philosophischen Konzepten arbeitete er sich weiter am Christentum ab. Das, was er selbst als Lösungen für Lebensprobleme anbot, blieb im Bann der Denkfiguren, die er im Christentum kennengelernt hatte. CARSTEN KNOP
Nietzsche. Leben und Denken im Bann des Christentums, Christiane Tietz, Verlag C.H. Beck, München 2025, 249 Seiten
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