Besprechung vom 22.03.2025
Lyrik sind so kleine Fäuste
So kann man beinah, beinah hoffen: Dagmar Leupolds neuer Gedichtband "Small Talk".
Von Angelika Overath
Von Angelika Overath
James Baldwin, dessen hundertster Geburtstag sich kürzlich jährte, hat einmal den Begriff der "vornehmen Verzweiflung" geprägt. Es ging bei ihm um den Anzug, den er bei der Beerdigung von Martin Luther King trug. Das Kleidungsstück war danach für ihn tabu. Er würde es nicht mehr tragen können, ohne an den Erschossenen zu denken. Ein finanziell schlechter gestellter alter Freund aus der Bronx bat ihn um den Anzug. Er konnte sich Baldwins "vornehme Verzweiflung" nicht leisten.
0Wir sehen uns heute in anderer Weise mit einer Art "vornehmer Verzweiflung" konfrontiert. Dagmar Leupold spricht in ihrem neuen Lyrikband "Small Talk" von der "Gleichzeitigkeit sich eigentlich ausschließender Zustände". Im Gedicht "Kollision (Februar 2022)" heißt es: "Am Morgen danach // (. . .) freuen wir uns / aufs Frühstück / aufs Einkaufen / aufs Kino / auf Weintrinken". Ja, es geht uns gut. Und wir dürfen uns aufregen in himmelschreiender Empörung und ebenso abtauchen ins Private. "Small Talk" weiß um die Pole der "rhetorischen Aufrüstung" und des Eskapismus und versucht, diese prekäre Lage bewusst zu machen. Das Gedicht "Bilder" thematisiert den Voyeurismus: "am liebsten rissen wir die / schützenden Folien über / den wie Fragezeichen / gekrümmten Leichen / noch fort, freilich die Lider / so verschlossen, / dass der Blick der / entsperrten Augen nicht trifft: // Schauen wollen wir, / nicht sehen". Unsere Haltung gegenüber der humanen Katastrophe bleibt ein "Small Talk".
Dabei ist "Small Talk" ja auch eine soziale Weichzone, die das alltägliche Miteinander erst möglich macht. Die beiläufige Konversation geht meist vom Wetter aus; es ist ein wunderbarer Anlass, im Grunde nichts zu sagen, auszuweichen oder sich distanzierten Wohlwollens zu versichern: "Nachbarn // Gespräche in C-Dur / die Tonleiter stabil / beim Auf und Ab / der Stimmen // nichts wird gesagt / über das Wetter hinaus / und das Lob der letzten / Mahlzeit. So gestärkt // trennt man sich wortreich - / durch Verschwendung / gegen Verarmung gefeit." Und dabei ist der Titel "Small Talk" eine dezente Verbeugung vor dem Genre des kurzen Gedichts. Es ist die Form des Erschreckens, des Staunens, des punktuellen Reagierens. Dieses lakonische Sprechen hat Dagmar Leupold auch einmal "kleine geballte Fäuste" genannt. Für das Ich sind Verse eine "Form von Notwehr".
Poetisch lässt sich im vordergründigen Reden übers Wetter dessen Metaphorik mit all ihren Tiefs und Hochs nutzen. Von der politischen Großwetterlage bis zu atmosphärischen Störungen. Wolken streiten am Himmel wie "Rabenschwestern" oder ziehen durchs Gemüt. Und im Regen regnet es Wesensverwandlungen. "Zugfahrt": "Wie in südlichen Ländern / die Perlenschnüre / im Eingang kleiner Läden / fädeln sich die Regentränen das Fenster / hinab - einzelne Tropfen, windgetrieben / schwirren ab wie wildgewordene Spermien / unfruchtbar". Immer wieder gelingen Dagmar Leupold überraschende Formulierungen, die uns etwas wie zum ersten Mal sehen lassen.
Der Link zwischen dem Schrecken und dem Ich ist die Sprache. Der Wahnsinn schlägt in die Verse ein. Er bedroht sie ("Keine Poller schützen vor diesem Ungetüm / das ins Gedicht kracht wie ein Amok-Truck"), und doch liegt in den Worten der Ort einer möglichen Verwandlung. Der Schreibtisch wird zum dialogischen Gegenüber, an ihm kann mit der Zeilenarbeit auch Seelenarbeit geleistet werden. Im italienischen Refugium von Suvereto riecht der Schreibtisch anders "und spricht doch Deutsch. // Das sind die kleinen Wunder, / die am Leben halten // und bei näherer Betrachtung / zum Geheimnis reifen. // In Versen behaust."
Solche Arbeit am Wort ist auch Arbeit an der Welt. Weil Kunst, und das hat Leupold öfter betont, in einem geschichtlichen Rahmen stattfindet, spricht sie auch von ihrer Zeit. Wo die Genauigkeit des Blicks die Realität verbürgt, ist der private Augenblick politisch. Im Gedicht wird es auch für andere erfahrbar und ist damit Einmischung. Zu den beeindruckendsten Texten in diesem erstaunlichen Band gehört das Gedicht "Horizontale/Vertikale", es zeigt eine alltägliche Szene auf dem Krefelder Hauptbahnhof: "Vor dem Haupteingang der Caritas / (günstig einkaufen) liegt er langgestreckt / die geschundenen Füße abgelegt wie Unrat / das Gesicht verrußt, die Haare zum / Kissen verfilzt, darauf gebettet der Kopf. // Er singt, während an ihm / vorbei der aufrechte Gang / geübt wird, mit geheftetem Blick. // Solche Angst vorm Stolpern!" Wer diese tief empathische Zeile von den "geschundenen Füßen abgelegt wie Unrat" gelesen hat, wird anders durch die Straßen gehen.
Die Gedichte umspielen das Alter, die Liebe ("Nimm dich / meiner Gespenster an // Please"). Zentral ist in allen Wettern die Natur, die Antworten zu geben scheint. So werden etwa die Zitronen am Bäumchen, das den Winter überlebt hat, angesprochen als: "Sonnenverbündete, die ihr / den Untergang nicht fürchtet - // haltet ihn auf!" Und es gibt wunderbare beiläufige Alltagsszenen (zwischen Löschpapier und Götterspeise), die sich öffnen können für Glück. Eines der freundlichsten Gedichte ist wohl "Wunsch, in der Bäckerei zu arbeiten". Es beginnt: "Die Nase bemehlt, die Hände gewärmt / von frisch ausgebrüteten Brötchen, / die in den Tüten knistern. Zusage: / Dieser Tag bringt kein Leid, nur Wetter."
Eine Sehnsuchtsspur durchzieht die Verse wie ein nicht verhandelbares Trotzdem. Ein Gedicht ist den Enkeln gewidmet, sie schaukeln "bei jedem / Flug gen Himmel ein Schrei, vor Freude" und das Bewusstsein, dass Flügel wachsen werden: "schöner Irrtum / der Fliegenden. // Beharrt auf ihm!" Ein anderes träumt: "Wäre doch die Weltgemeinschaft / ein gemischter Chor, in dem jede / Stimme zählt! Brustkorb, Lunge, / Zunge vermählt (. . .) // Und wenn dann, / wenn dann / das dona nobis pacem erklingt, / könnte man beinah, / beinah // hoffen."
Dagmar Leupold: "Small Talk". Gedichte.
Jung und Jung Verlag,
Salzburg 2025.
111 S., geb.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.Es wurden noch keine Bewertungen abgegeben. Schreiben Sie die erste Bewertung zu "Small Talk" und helfen Sie damit anderen bei der Kaufentscheidung.