Besprechung vom 20.04.2025
Ein frauenfressendes Monster
"Reservoir Bitches", das Debüt der Schriftstellerin Dahlia de la Cerda, erzählt von der alltäglichen Gewalt gegen mexikanische Frauen.
Wenn einem aufgeht, worauf "Reservoir Bitches" hinausläuft, der Debütroman der mexikanischen Autorin Dahlia de la Cerda: Dann ist es längst zu spät, um sich auf die Szenen vorzubereiten, die noch kommen. Denn Dahlia de la Cerda sammelt die unerzählten Geschichten von Femiziden in Mexiko: Rund zehn Frauen werden dort jeden Tag getötet. Über 90 Prozent der Taten bleiben unaufgeklärt. Auch in Deutschland steigt die Zahl der Anzeigen von Gewalt gegen Frauen in allen Bereichen. Die Polizeiliche Kriminalstatistik erfasste 2023 fast jeden Tag den Mord an einer Frau, dazu kommt eine vermutlich hohe Dunkelziffer.
"Mexiko ist ein frauenfressendes Monster", heißt es in einem tieftraurigen Brief, den eine junge Frau im letzten Kapitel des Buchs an ihre ermordete beste Freundin schreibt. "Vielleicht ist das dein Auftrag. Die Knochen toter Frauen zu sammeln, sie zusammenzusetzen, ihre Geschichten zu erzählen und sie danach laufen zu lassen, wo auch immer es sie hinzieht." Es scheint auch der Auftrag zu sein, den sich die Autorin und Bürgerrechtlerin de la Cerda für ihr Buch erteilt hat, nachdem es einen Femizid in ihrer eigenen Familie gegeben hatte.
Doch auch andere Formen sozialer Ungleichheit kommen in den 13 Kurzgeschichten von "Reservoir Bitches" vor. Der Roman hat es in diesem Jahr auf die Longlist des Internationalen Booker-Preises geschafft. Seine Protagonistinnen - von einer transsexuellen Sexarbeiterin über eine Nachbarschaftshexe bis hin zu einer angehenden Politikerehefrau - könnten unterschiedlicher nicht sein. Beim Lesen weiß man nie, wie lange sie bleiben, und als wüssten sie selbst, dass ihre Zeit begrenzt ist, brechen die Frauen in Geständnisse aus, legen ihre PR-Strategien offen, setzen zu Rechtfertigungen an oder schildern ihren eigenen Tod.
Anfangs erschwert das den Zugang zum Buch. Wann immer die Kapitel einen ergriffen haben, brechen sie ab, und eine neue Kulisse wird aufgezogen. Während man noch schwankt, ob das eine Stärke oder Schwäche ist, beginnen die Geschichten sich aber auf eigensinnige Weise miteinander zu verbinden. Da findet etwa das Kapitel "Gott erbarme dich unser" in "Gott hält sich da schön raus" sein Gegenüber. Erzählt werden zwei Perspektiven auf einen Raubüberfall, der der Räuberin zum Verhängnis wird. Andere Geschichten stehen für sich allein, erzählen von einer selbst durchgeführten Abtreibung oder vom Leben als alleinerziehende Teenager-Mutter. Vier der Kapitel bilden ein Quartett: In "Yuliana" spricht die Kronprinzessin eines Drogenkartells über ihre beste Freundin Regina, die von ihrem Partner erschossen wurde. Später kommt ein Kapitel zu Yulianas Leibwächterin La China dazu, dann erzählt Reginas Schwester, und schließlich meldet sich Regina selbst zu Wort.
Jede der Geschichten bricht auf ihre eigene Art aus der Protagonistin heraus. Sie erzählen, wie sie auch sprechen würden. Der Tonfall soll dabei die Lebensumstände und Hintergründe derer markieren, die zu Wort kommen. Mal widerwillig, gönnerhaft, verzweifelt liest sich das, aber immer lebhaft und vor allem unmittelbar. Mehrstimmige Romane wie dieser heben die Kunst des Übersetzens - in diesem Fall von Johanna Malcher - besonders hervor, stellenweise wünscht man sich beim Lesen trotzdem, man könnte auf "Original mit Untertiteln" umschalten. Die deutsche Sprache lässt umgangssprachliche Äußerungen teils nach der Synchronisation eines Actionfilms klingen: "Und die Nacht war kalt, Süße, eisig wie eine Pinguinpussy."
Passenderweise spielt der Titel auf Tarantinos Gangsterfilm "Reservoir Dogs" an. Ebenso nicht linear, blutig und ironisch, könnte "Reservoir Bitches" als feministisches Pendant dazu daherkommen. Auf den zweiten Blick erscheint der Roman aber mehr wie eine mexikanische Interpretation des 2019 mit dem Booker-Preis ausgezeichneten "Mädchen, Frau, etc." von Bernardine Evaristo, in dem zwölf schwarze Britinnen zwölf Geschichten erzählen, die immer mehr in eine fließen. Anders als bei Evaristo verbindet hier jedoch kein gleichmäßiges Netz die Hauptpersonen. Die Geschichte von Regina wird so ausführlich erzählt, dass ihre eigene Schilderung fast redundant wirkt, andere stehen ganz für sich, bieten kaum Anhaltspunkte für ihre Verbindung zu den anderen Kapiteln.
Allein der Tod zieht sich durch "Reservoir Bitches". Zu Beginn des Buches sind es vor allem die Frauen selbst, die Leben beenden; aus Angst, Armut, Zorn, Berufspflicht, Rache. Um zu überleben. Auf den Mord an Regina folgen dann ein, zwei, etliche weitere Femizide. Es ist schrecklich, diese letzten Kapitel voll Folter und Vergewaltigungen zu lesen. Albtraumartig. Doch auch wenn die Autorin jedes Gräuel ausbuchstabiert, bewahren ihre Figuren immer ihre Würde - sei es auch durch einen magisch-realistischen Dreh, wenn sich eine junge Frau in einen Vampir verwandelt, um sich an ihren Vergewaltigern zu rächen. So lässt de la Cerda in jeder Geschichte den Humor ("Die Männlichkeit ist wie ein Pulverkeks, Schwester, mega bröselig"), die Zärtlichkeit, die Widerständigkeit leuchten, die die porträtierten Frauen der Härte ihres Schicksals zum Trotz so frei, so nahbar, so vertraut machen. ELISABETH FLESCHUTZ
Dahlia de la Cerda, "Reservoir Bitches. Roman in Storys". Aus dem mexikanischen Spanisch von Johanna Malcher. Culturebooks, 184 Seiten
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