
Besprechung vom 30.07.2025
Er liebte den Lustkrieg und die Literatur
Detlev Schöttker widmet dem emsigen Korrespondenzführer Ernst Jünger ein Buch.
Es dürfte keinen Schriftsteller geben, der ein umfangreicheres Briefarchiv hinterlassen hat als Ernst Jünger. Als der Autor seine Korrespondenz 1996 an das Deutsche Literaturarchiv in Marbach verkaufte, war das zweite Jahrhundert seines Lebens angebrochen. Acht Jahrzehnte davon hatte Jünger intensiv korrespondiert, mit einigen Adressaten, etwa Carl Schmitt, über Jahrzehnte hinweg. Da Jünger nie emigrieren musste, sein damaliges Haus in Kirchhorst bei Hannover im Zweiten Weltkrieg nicht ausgebombt wurde und nach 1945 in der britischen Besatzungszone lag, konnte er einen Großteil seiner Korrespondenz über alle Fährnisse hinweg retten. In Marbach lagern etwa 90.000 Briefe an und weitere 40.000 (in Abschriften oder Durchschriften) von Jünger. Etwa 13.000 Briefe Jüngers sind zudem Teil anderer Marbacher Nachlässe.
Wie viele Schreiben Jüngers sich ohne zweitschriftliche Kopie in Privatbesitz befinden, ist unbekannt. Der Literaturwissenschaftler Detlev Schöttker, seit Jahren mit Jüngers Korrespondenz befasst, schätzt ihre Zahl auf womöglich mehrere Zehntausend. Von einigen Briefwechseln wiederum weiß man, dass sie existierten, aber nach 1933 und insbesondere nach dem 20. Juli 1944 von Jünger vernichtet wurden. Dazu gehört der mit dem Schriftsteller und Anarchisten Erich Mühsam.
Doch 130.000 überlieferte Schreiben sind mehr als genug, um ein Forscherleben auszufüllen. Schöttker hat nach jahrelanger Arbeit nun eine Übersicht vorgelegt. In "Die Archive des Chronisten - Ernst Jüngers Werke und Korrespondenzen" zeigt er anschaulich, dass Jünger das Schreiben von Briefen nicht als Nebenzweig, sondern als einen Kern seines Werks begriff. Anders wäre der tägliche Zeitaufwand, den der Autor darauf verwendete, auch kaum erklärbar.
Der Titel von Schöttkers Werk deutet allerdings auch eine Schwäche an, die zumindest Teilen des Buches anhaftet. Doch bevor genörgelt werden muss, soll gelobt werden: Schöttker ist ein exzellenter Kenner von Jüngers Werk, und vieles von dem, was er zutage gefördert hat, ist bemerkenswert. Das wurde auch auf der diesjährigen Tagung der Ernst und Friedrich Georg Jünger-Gesellschaft deutlich, wo Schöttkers Buch in Abwesenheit des erkrankten Autors vorgestellt wurde. Die wenigsten Anwesenden etwa kannten zwei explosive Sätze von Hannah Arendt aus dem Jahr 1950 über die im Jahr zuvor erschienenen "Strahlungen": "Ernst Jüngers Kriegstagebücher liefern vielleicht den besten und ehrlichsten Beweis für die Schwierigkeiten, denen das Individuum ausgesetzt ist, wenn es seine moralischen Wertvorstellungen und seinen Wahrheitsbegriff ungebrochen in einer Welt erhalten möchte, in der Wahrheit und Moral jeglichen erkennbaren Ausdruck verloren haben. Trotz des unleugbaren Einflusses, den Jüngers frühe Arbeiten auf bestimmte Mitglieder der nazistischen Intelligenz ausübten, war er vom ersten bis zum letzten Tag des Regimes ein aktiver Nazi-Gegner und bewies damit, daß der etwas altmodische Ehrbegriff, der einst im preußischen Offizierskorps geläufig war, für individuellen Widerstand völlig ausreichte."
Arendt konnte nicht wissen, dass die "Strahlungen" eine diaristische Inszenierung sind, ein hochgradig konstruiertes Produkt, das die Scheinauthentizität der Tagebuchform nutzt, um einen literarischen Ansatz der Selbstverherrlichung zu verbrämen, der ins Romaneske spielt. Manche Einträge wurden mehr als ein halbes Dutzend Mal überarbeitet. Andere Notate kamen erst Jahre nach Kriegsende hinzu, viele wurden gestrichen oder so stark umgearbeitet, bis sie mit ihrem Ursprung nicht mehr viel gemein hatten. Dass Jünger seiner Frau aus dem hungernden Paris wöchentlich Pakete mit Kaffee, Zigaretten, Schokolade und anderen Luxuswaren schicken ließ, steht natürlich nicht in den "Strahlungen", da es den Nimbus von dessen Protagonisten beschädigt hätte.
Es steht aber in einem Band mit Auszügen aus dem fast 2000 Schreiben umfassenden Ehebriefwechsel zwischen Gretha und Ernst Jünger, der 2021 von Schöttker und Anja Keith herausgegeben wurde. Wer die "Strahlungen" genau lesen will, sollte das in Kombination mit diesem Briefwechsel tun. Nicht zuletzt deshalb, weil Gretha Jünger in ihren eindringlichen brieflichen Berichten über die Luftangriffe auf Hannover 1943 Sätze verwendet, die verblüffend an die berüchtigte "Burgunderszene" erinnern, Jüngers Beschreibung eines Bombenangriffs auf Paris 1944. Während seine Frau in Niedersachsen den Luftkrieg erduldet und zugleich literarisiert ("Wie flüssiges Silber ergossen sich die Phosphormengen über die Stadt, ein schauerlich-schönes Schauspiel"), ist Jünger in Paris stark von dem Lustkrieg seiner Affäre mit der Ärztin Sophie Ravoux in Beschlag genommen, der seine Ehe an den Rand der Scheidung bringt.
Würde Arendts fast spektakulär-wohlwollende, bisher kaum beachtete Einschätzung Jüngers und seiner Pariser Tagebücher künftig häufiger zitiert, wäre das ein Verdienst von Schöttkers Forscherakribie, die auch an anderen Stellen des Buches aufscheint. Da ist etwa ein Geburtstagsartikel von Siegfried Unseld aus dem Jahr 1949, in dem Jünger "in der mächtigen Geistigkeit seiner Gedanken und in der kristallenen Klarheit seines Ausdrucks zu den Größten des zeitgenössischen deutschen Schrifttums" gerechnet wird. Oder der pointierte Satz von Heiner Müller, geschrieben auf ein DIN-A4-Blatt vermutlich um 1980, das Müller einer Jünger-Biographie seiner Bibliothek beilegte, wo es im Nachlass zu finden ist: "E. Jünger - ein vergessenes Geschoß - das durch die Nebel der Ideologien + das Gewölk der Illusionen unbeirrt humorlos seine pathetische Bahn zieht."
Nun zur Nörgelei. Dieses Buch weiß nicht, was es will. Statt sich auf das anspruchsvolle Thema der jüngerschen Korrespondenz und ihrer Bedeutung zu konzentrieren, franst der Text immer wieder aus, während er an anderen Stellen unbefriedigend lakonisch bleibt. Mehr als nur die Tatsache, dass korrespondiert wurde, erführe man beispielsweise gern, wenn beiläufig erwähnt wird, dass Jünger mit Karl Jaspers, Golo Mann oder Rudolf Augstein in Briefkontakt stand. Schon der Hinweis, dass ein erwähnter Briefwechsel nicht ergiebig ist und deshalb nicht weiter auftaucht, hätte geholfen. Umso mehr, wenn dafür einige der in der Luft aufgehängten Spekulationen weggefallen wären, die das Buch enthält. Jene darüber etwa, dass der oft zitierte Einstiegssatz der "Marmorklippen" ("Ihr alle kennt die wilde Schwermut, die uns bei der Erinnerung an Zeiten des Glücks ergreift") auf Jüngers Brasilienreise zurückgehe. Begründung: Auf dieser Reise habe Jünger glückliche Momente erlebt, und auch im ersten Satz der "Marmorklippen" ist von Glück die Rede.
Dass Günter Grass sich nach dessen Tod zu Ernst Jünger "bekannt" habe, ist ebenfalls eine Bezugsdrechselei, die durch Wiederholung nicht überzeugender wird. Zudem wird mitunter allzu breit ausgewalzt, was aus längst publizierten Quellen bekannt ist. Und wozu die langatmigen Inhaltswiedergaben? Wer nicht weiß, was in den "Marmorklippen" steht, kann das auch von Wikipedia und Co erfahren. Im Buch hätten wenige Striche genügt.
Detlev Schöttker, fleißig und gewissenhaft, weiß sehr viel über sein Thema. Aber sein Beitrag zu Jüngers Korrespondenz ist leider zu knapp und zu ausschweifend zugleich geraten, weshalb sich diese Rezension womöglich kurzweiliger liest als das Buch, von dem sie handelt. MICHAEL MARTENS
Detlev Schöttker: "Die Archive des Chronisten". Ernst Jüngers Werke und Korrespondenzen.
Wallstein Verlag,
Göttingen 2025.
336 S., geb.
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