"Hier nur ein paar, vielleicht nicht einmal die Richtigen", steht auf dem Schild, das der Pfleger Cherubino ans Tor der Irrenanstalt im Trentino schrauben muss. Er ist der Ich-Erzähler in dem erstaunlichen historischen Roman über wenig mehr als 500 Tage im frühen 20. Jahrhundert. Dirk Stermann beteuert im Nachwort: "Was in diesem Roman am unglaubwürdigsten klingt, entspricht in der Regel den historischen Tatsachen."
Zweifellos gab es im Jahr 1919 auch außerhalb der Psychiatrie genug Irre. Beispielweise den präfaschistischen Dichter und Politiker Gabriele D'Annunzio, den Begründer des Futurismus Filippo Tommaso Marinetti oder den politischen Abenteurer Guido Baron Keller von Kellerer und Wolkenkeller. Diese drei waren maßgeblich an einem politischen Experiment beteiligt, das an Verrücktheit kaum zu überbieten ist. D'Annunzio nutzte die instabile politische Lage nach dem Ersten Weltkrieg aus und besetzte mit seinen Legionären die Stadt Fiume (heute: Rijeka). DAnnunzio gerierte sich sofort als Comandante der kurzlebigen Republik, deren Inhalte und Rituale aber umso länger fortdauerten in Italien und Deutschland: die Führerverehrung, die Massenmobilisierung, die Balkonreden zum Volk oder der Römische Gruß.
Stermann brauchte nur mehr wenig dazuerfinden, um die wunderlichen historischen Geschehnisse in einen Roman zu verwandeln.
Cherubino wird von seinem Vorgesetzten beauftragt, einen der harmlosen Irren seiner Anstalt nach Fiume zu begleiten. Dort sollen sie die Regierung bilden. Ausgewählt wird der nach einer Lobotomie vorgeblich so harmlose riesenhafte Axtmörder Zino. Er wird Minister für Handstreiche. Aus allen Teilen Italiens lässt Keller die Irren zusammenholen. Einer ist für Schulen und Mutproben zuständig, einer für "Adler Schlangen, Windhunde und Lebewesen, die erst noch entstehen werden", einer für "abzureißende Mauern und neue Wände", einer für "Schönheit, Maschinen und Märsche" und einer für Luft.
Der Ich-Erzähler Cherubino fungiert als distanzierter Beobachter des Rummels. Und das ist eine Schwachstelle des Romans. Cherubino registriert und bewertet, bleibt aber am Rande des Geschehens. Leider ohne viel Tiefe. Die andere Schwachstelle: Die absurden Episoden ziehen sich etwas. Dennoch: eine wirklich frappierende Geschichte, die Dirk Stermann manchmal ironisch, aber meist sehr nüchtern erzählt. Gewisse Parallelen zu heutigen Herrscherattitüden in Übersee sind nicht ganz von der Hand zu weisen.
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