
Die Forbes-Investigativjournalistin Emily Baker-White erzählt die Geschichte des kometenhaften Aufstiegs der App TikTok, die seit ihrem offiziellen Launch im Jahr 2018 die Social-Media-Welt revolutionierte, Popkultur und Öffentlichkeit weltweit veränderte, und bereits mehr als 1, 6 Milliarden User in über 150 Ländern aufweist. Baker-Whites Buch besteht aus den Enthüllungen ihrer spektakulären Investigativreche, die mit exklusiven Informationen von über 100 TikTok-Insidern die engen Verbindungen des chinesischen Staats zum TikTok-Konzern aufdeckt. Spannend wie ein Thriller enthüllt Baker-White Machtmissbrauch, Datenschutzverletzungen und mutmaßliche Algorithmus-Manipulationen bei TikTok -, bis sie und andere Journalisten bedrohlicherweise selbst ins Fadenkreuz des chinesischen TikTok-Mutterkonzerns ByteDance geraten.
»Dies ist ein Buch über einen Machtkampf zwischen den beiden mächtigsten Regierungen der Welt und dem Team von Technologen, das zwischen ihnen steht. Es handelt davon, wie eine private Internetplattform zu einem Titanen der Soft Power wurde, in einer Zeit, in der China droht, die USA in ihrer kulturellen und wirtschaftlichen Hegemonie weltweit zu überholen. Es geht darum, wie die Verdrängung bewusster menschlicher Entscheidungen eine ohnehin schon fragile Demokratie weiter belastet. Und es erzählt davon, wie die Staats- und Regierungschefs der Welt versuchen, eine Maschine zu nutzen, die in der Lage ist, die persönliche Realität von mehr als einer Milliarde Menschen zu formen. « - Emily Baker-White
Besprechung vom 24.11.2025
Der Machtkampf um Tiktok
Wie Amerika und China um die Erfolgs-App ringen
Nach einem Klingelstreich wurde kürzlich in den USA ein elfjähriger Junge von einem wütenden Hausbesitzer erschossen. Klingelstreiche sind offenbar bei jungen Amerikanern in Mode, seit solche Scherze in Kurzvideos auf der populären App Tiktok unter deren 1,6 Milliarden Nutzern weltweit viele Klicks ernten. Der Vorfall in Houston stellte abermals das seit 2018 aktive, stark von Jugendlichen frequentierte Internetportal des chinesischen Unternehmens Bytedance infrage. Die Plattform ist wegen zahlreicher Bedenken zu Daten- und Jugendschutz, Manipulation, Falschinformationen und Datenklau sowie Spionage, Propaganda und Zensur zugunsten Chinas umstritten. Tiktok wurde bereits in mehreren Staaten, so in Indien und Indonesien, zeitweise gesperrt.
Sperrungsabsichten kursierten seit 2020 auch unter der ersten US-Trump-Regierung. Ein Verbot erwies sich vor einem Gericht in Kalifornien als unzulässig. Die Video-App soll nun in den USA fortbestehen, dabei allerdings mehrheitlich nicht mehr in chinesischer, sondern in amerikanischer Hand sein. In seiner zweiten Amtszeit hat US-Präsident Donald Trump am 27. September 2025 ein Dekret unterzeichnet, dem zufolge Tiktok künftig von amerikanischen Unternehmen betrieben werden könnte. Tiktoks chinesischer Mutterkonzern Bytedance würde danach weniger als 20 Prozent der Anteile am US-Geschäft der App halten.
Das Tauziehen um die App, die in den USA mehr als 170 Millionen Nutzer hat, geht auf ein dort im vergangenen April verabschiedetes Gesetz zurück. Es sieht vor, die Kontrolle am US-Geschäft von Tiktok abzugeben und einen nichtchinesischen Käufer zu finden. Das Gesetz wurde mit Sorgen um die nationale Sicherheit begründet.
Der zähe Kampf zwischen der amerikanischen und der chinesischen Regierung um die Oberhoheit von Tiktok in den Vereinigten Staaten lässt sich jetzt im Sachbuch-Debüt der Amerikanerin Emily Baker-White minutiös nachlesen. "Tiktok Time Bomb", die deutsche Übersetzung des im März 2025 erschienenen Hardcovers "Every Screen on the Planet: The War Over Tiktok", basiert auf etwa 30 Artikeln, in denen die Harvard-Juristin für das Magazin "Forbes" den kometenhaften Aufstieg der Video-App Tiktok investigativ begleitet hat. Im Rahmen ihrer Recherchen geriet sie dabei selbst ins Fadenkreuz des Mutterkonzerns.
Baker-Whites Buch handelt von der amerikanisch-chinesischen Konfrontation auf dem scheinbar harmlosen Feld der Video-Apps. Bei dem "Machtkampf zwischen den beiden mächtigsten Regierungen der Welt und dem Team von Technologen, das zwischen ihnen steht", geht es um die Verdrängung bewusster menschlicher Entscheidungen durch Tiktok. Diese Verdrängung könnte die ohnehin schon fragile Demokratie in Amerika weiter belasten.
Detailliert zeigt die Autorin dazu auf, wie Tiktok bei Bytedance seit 2016 aus kleinsten Anfängen als amüsante Unterhaltungsmaschine zu einem Giganten der "Soft Power" wurde. Maßgeblich vorangetrieben wurde diese Entwicklung vom chinesischen IT-Unternehmer Zhang Yiming, der sich das raffinierte Empfehlungssystem des Algorithmus der mobilen App als "futuristisches Wunderwerk maschinellen Lernens" ausdachte. "Er war besessen von dem Gedanken, Technologien zu entwickeln, die uns besser kennen als wir uns selbst", schreibt Baker-White.
Mit seiner Idee, nicht mehr Menschen nach Informationen suchen zu lassen, sondern Informationen auf die Suche nach Menschen zu schicken, erwies sich Yiming als seiner Zeit voraus. Die gesammelten Daten aus Gewohnheiten, Netzwerken und Präferenzen von Nutzern machten seinen Tiktok-Algorithmus zur universellen Prognosemaschine für explizite wie unausgesprochene Informationsbedürfnisse.
Während der Corona-Pandemie avancierte die chinesische App in den USA zum weitverbreiteten sozialen Netzwerk. Als US-Juristen merkten, dass sie in der Lage war, Nutzer zu überwachen und die öffentliche Meinung zu beeinflussen, kam es zum gerichtlichen Zweikampf zwischen den beiden Ländern. Bis in kleinste Details erzählt Baker-White, wie sie 2022 mithilfe von Whistleblowern öffentlich machte, dass private Nutzerdaten von US-Bürgern, darunter ihre eigenen, für Bytedance-Mitarbeiter in China verfügbar waren. Ihr Buch legt umfassend die Bemühungen des amerikanischen Kongresses dar, dass Bytedance Tiktok verkauft. Eine große Rolle spielen dabei die Debatten um Meinungsfreiheit und nationale Sicherheit. Die Leser müssen für die vielstimmige Lektüre mit 40 Unterkapiteln und 536 Anmerkungen allerdings Geduld und Zeit mitbringen.
Bleibt am Schluss die Frage, ob der deutsche Buchtitel "Tiktok Time Bomb" angesichts der zwischenzeitlichen Entwicklung noch Sinn macht: Ist Tiktok nach wie vor ein Sprengkörper, der mit explosivem Material durch einen Zeitzünder zur Detonation gebracht werden kann? Der Gedanke, dass ein Algorithmus eines Tages unsere Wünsche besser erkennen könnte als wir selbst, stellt zwar grundlegende Vorstellungen von menschlicher Selbstbestimmung infrage. Mit den Verkaufsplänen meinen die Amerikaner aber offenbar die Bombe entschärft zu haben. Jedenfalls nutzt die US-Regierung inzwischen mit einem eigenen Account Tiktok selbst. ULLA FÖLSING
Emily Baker-White: Tiktok Time Bomb.
Die dunklen Machenschaften hinter der mächtigsten App unserer Zeit, Piper Verlag, München 2025, 432 Seiten
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