"Alles in ihrem Leben war eine Aufeinanderfolge von Dingen, die sie eigentlich gar nicht machen wollte, Erwartungen, zu deren Erfüllung sie sich verpflichtet fühle: Sie hatte geheiratet, um ihrem Elternhaus entfliehen zu können. Sie war in eine Kleinstadt nach North Carolina gezogen, weil ihr Mann dort arbeitete. Sie hatte Kinder bekommen, weil die Frauen in ihrem Leben das schon immer so machten. Sie hatte einen öden Job angenommen, weil er mit den Stundenplänen ihre Kinder vereinbar war. Hatte sie alles nur getan, um der Welt etwas zu beweisen, oder sich selbst? Hatte sie sich selbst beweisen wollen, dass sie ihren eigenen Weg gehen konnte, oder die Traditionen aufzugeben? Dass sie beides haben konnte, Freiheit und Familie, ohne das eine für das andere opfern zu müssen?
Doch warum fühlte es sich trotzdem so an, als hätte sie etwas geopfert? Warum ließ sie das zu?
Als ihr die Antwort klar wurde, kaute Yara auf der Innenseite ihrer Wange, bis der Schmerz sie beruhigte. Sie hatte es zugelassen, weil sie von klein auf gelernt hatte, dass Gehorsam ein größeres Gefühl von Sicherheit bot als Freiheit."
Die junge Protagonistin Yara in Etaf Rums Roman "Evil Eye" ist Tochter palästinensischer Einwanderer in Amerika, hat zwei Töchter, ist verheiratet und arbeitet als Kunstdozentin. Obwohl sie sich selbst als privilegiert betrachtet, besonders im Gegensatz zu ihrer Mutter früher, ist sie unzufrieden mit ihrem Leben. Sie wollte immer frei sein, als Künstlerin arbeiten und reisen. Nichts davon kann sie umsetzen. Sie ist unzufrieden, alles fühlt sich falsch an und sie neigt zu Wutausbrüchen und Niedergeschlagenheit. Nach außen hin funktioniert sie, innerlich ist sie unruhig. Yara ist alleine mit ihren Gefühlen, sie hat keine Freundschaften außerhalb der Ehe.
Als Yara nach einem Zwischenfall auf der Arbeit gezwungen wird, eine Auszeit sowie psychologische Beratung in Anspruch zu nehmen, muss sie sich ihren Gefühlen und dem Trauma ihrer Kindheit stellen. Doch dies fällt Yara sehr schwer.
"Worte sind mir schon immer schwer gefallen. Manches lässt sich durch Sprache einfach nicht ausdrücken."
"William sagt, durch das Schreiben lasse sich das Unaussprechliche in eine Geschichte verwandeln. Aber ich will keine Geschichte erzählen. Ich will mich befreien."
Nach und nach begreift Yara, dass sie so nicht weitermachen kann. Es ging ihren Eltern damals und geht ihrer Familie, ihrem Umfeld immer noch hauptsächlich darum, dass sie die kulturell geprägten Rollenbilder, Erwartungen und Verpflichtungen erfüllt.
"Wss würden die Leute denken? Es wäre zwecklos gewesen, weiter mit ihm darüber zu reden, da die Meinung andere Leute im grundsätzlich mehr wert war als die Wünsche seiner eigenen Tochter. Ihre Brüder dagegen hatten ihre Träume ungehindert verwirklichen dürfen."
Als Yara ihren Job verliert, ist sie erst verzweifelt. Doch dank einer neuen Therapeutin, sich entwickelnden Freundschaften und mithilfe eines Tagebuchs gelingt es ihr, die transgenerationalen Traumata zu durchbrechen und den Mut für ein selbstbestimmtes Leben zu finden.
"'Dein Ruf ist alles, was Du in dieser Welt hast', sagte Baba. 'Sonst hast Du nichts.'
'Oh doch', erwiderte Yara. 'Du hast deinen Anstand. Deine Familie. Die Gewissheit, dass du ein ehrbares Leben führst. Und du hast die Chance, ehrlich zu dir selbst zu sein. Und deinen Kindern ein gutes Vorbild zu sein und sie in einer liebevollen Umgebung aufzuziehen. 'Sie wischt sich die Tränen von der Wange. 'Wen kümmert es, was die Leute denken, wenn du nicht das Rückgrat hast, in den Spiegel zu schauen?'"
Evil Eye ist ein ruhiges, feinfühliges und sehr intensives Buch, das mich von Anfang an in den Bann gezogen hat. Ich mochte den Schreibstil der Autorin sowie Aufbau des Romans sehr. Dank der Tagebucheinträge konnte man sich noch mehr in Yara hineinversetzen.
Gegen Ende geht alles ein wenig schnell im Vergleich zum vorher eher langsamen Aufbau, dennoch hat mich Evil Eye voll überzeugt. Ein Roman über patriarchale Strukturen, psychische Gesundheit, kulturelle Identität und Herkunft, Mutterschaft und vieles mehr.
Von mir gibt es hier eine ganz klare Leseempfehlung!