Ein Echo, das nicht verhallt - über das Nachwirken einer leisen StimmeMeine Meinung: 4,5In "Evil Eye" von Etaf Rum (Pola Verlag) begleiten wir Yara, die in New York als erstes Kind palästinensischer Einwanderer geboren wurde. Sie ist inzwischen verheiratet und hat selbst zwei Töchter.Doch immer wieder spürt Yara ein Störgefühl, ein leises Unbehagen, das sie zunächst nicht genau benennen kann.So beginnt eine Geschichte über die Suche nach Sinn, nach Liebe, Anerkennung und Yaras Platz im Leben.Eine intensive Charakterstudie entfaltet sich, die uns immer tiefer in Yaras Welt hineinzieht und lange nachhallt.Etaf Rum scheut kein Thema: familiäre Traumata, Glaubenssätze aus der Kindheit, Erwartungen von außen und auch jene, die wir selbst an unser Leben stellen. Auch die Erkenntnis, dass wir unseren eigenen Ansprüchen nicht immer gerecht werden, wird sensibel behandelt.Durch Tagebucheinträge, die geschickt als Zwischenkapitel eingeflochten sind, entdecken wir nach und nach Yaras Vergangenheit und damit auch die Wurzeln ihres inneren Konflikts.Es ist ein intensives Buch, das sich nicht davor scheut, unangenehme Fragen zu stellen.Wer sind wir, wenn wir zwischen zwei Kulturen aufwachsen? Was bedeutet es für uns, wenn frühere Generationen ihre Traumata nicht verarbeitet haben? Und wie gelingt es uns, diesen Kreislauf zu durchbrechen für uns selbst und für unsere Kinder?Und wie können wir für uns und für unsere Kinder genau diese Dinge aufarbeiten, den Kreislauf durchbrechen, das alte hinter uns lassen und daraus etwas Neues, etwas Gutes entstehen lassen?All diese Fragen verhandelt Etaf Rum in Yaras Geschichte - leise, eindringlich und schonungslos ehrlich.Ich selbst habe das Privileg, dass meine Eltern nicht fliehen mussten, kein neues Leben in der Fremde aufbauen mussten (und was für ein verdammtes Privileg das ist!), sodass ich mich nie zwischen zwei Kulturen zerrissen fühlte. Umso wichtiger finde ich, dass man sich mit der Lebensrealität andere Menschen auseinander setzt.Und trotz unterschiedlicher Lebensbedingungen konnte ich mich in vielen Momenten tief mit Yara identifizieren, was das Lesen umso intensiver und heilsamer gemacht hat.Vielleicht war es einfach das richtige Buch zur richtigen Zeit. Wer weiß, aber was auch immer es war: es war genau richtig.Einen halben Stern ziehe ich ab, weil sich manche Aspekte wiederholten. Natürlich ist es realistisch, dass persönliche Entwicklung kein geradliniger Prozess ist. Trotzdem wirkte es stellenweise etwas redundant, das ist aber wirklich nur ein kleiner Kritikpunkt.Etaf Rums Roman ist kein lautes, kein reißerisches Buch, sondern ein leises, aufwühlendes. Es schreit nicht, es flüstert. Und dieses Flüstern hallt nach, als feine Gänsehaut auf der Haut,als jedes Härchen, dass sich beim Lesen aufstellt, als Echo einer Realität, die uns für einen Moment ganz nah kommt. Und warum so intensiv? Weil wir den Hauch der Realität eines anderen Menschen spüren, fühlen, erleben, der mit jedem Wort in unser Ohr gesprochen wird.Ein Buch, das Augen öffnet.