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Besprechung vom 18.10.2023
Das gehört doch sicher zur Behandlung
Weltliteratur aus Amsterdam: Etty Hillesums Tagebücher und Briefe komplett auf Deutsch
Natürlich liegt der Vergleich nahe: Etty Hillesum, eine junge jüdische Frau, schreibt zwischen 1941 und 1943 ein Tagebuch in Amsterdam - wer käme da nicht sofort auch auf Anne Frank? Insofern ist es dem Verlag C. H. Beck nicht zu verdenken, wenn er schon auf dem Schutzumschlag zur ersten deutschsprachigen Gesamtausgabe von Hillesums autobiographischen Schriften die Verbindung zur vielleicht bekanntesten Diaristin der Welt herstellt.
Und doch verdeckt der Vergleich mehr Unterschiede, als er an Gemeinsamkeiten offenlegt. Da ist zum einen das Alter: Etty wurde 1914 geboren und war damit fünfzehn Jahre älter; als sie ihr Tagebuch beginnt, hat sie ihr Studium des niederländischen Rechts bereits abgeschlossen und ein Studium der Slawistik begonnen. Zum anderen waren ihre Lebensbedingungen grundverschieden, denn während Anne Frank untertauchen und zwei Jahre in einem Versteck leben musste, konnte Etty Hillesum noch lange zu Hause leben und ein in gewisser Hinsicht normales Leben führen.
Sie wohnte - rund dreißig Gehminuten von Anne Franks Versteck entfernt - bei einem deutlich älteren Witwer zur Untermiete, mit dem sie ein Verhältnis begann. Dort lebten auch ihr Bruder Jaap und ein Chemiestudent, dem sie die wohl wichtigste Begegnung ihres Lebens verdankte: Er vermittelte sie quasi als Probepatientin an den Psycho-Chirologen Julius Spier, der fortan nicht nur Ettys Therapeut und Mentor, sondern auch ihr Geliebter werden sollte.
Der gelernte Kaufmann aus Frankfurt hatte, ohne akademische Ausbildung, als Psychotherapeut, der seine analytischen Verfahren wesentlich auf Handlesekunst stützte, schon in Deutschland für Furore gesorgt. Sein tiefenpsychologisches Rüstzeug hatte er bei C. G. Jung in einer Lehranalyse erhalten, der ihn wohl zur Verbindung von Psychologie und Chirologie ermutigte. 1939 war der Sohn jüdischer Eltern nach Holland emigriert und scharte sofort Patienten und Schüler um sich. Dabei war er immer auf der Suche nach neuen Analysanden.
Etty Hillesum war - wie so viele andere - sofort von dem Charisma, der "magischen Persönlichkeit" des Vierundfünfzigjährigen gefangen und entschloss sich zur Therapie. Ihr Tagebuch entstand vermutlich auf Anregung Spiers, der bis zu seinem frühen Krebstod 1942 die zentrale Figur in ihren Aufzeichnungen blieb. Die Anziehung, die der ältere Mann auf sie ausübte, faszinierte und irritierte Hillesum gleichermaßen, immer wieder rang sie mit ihrer Zuneigung - und mit ihm selbst im ganz wörtlichen Sinne: "Als wir das erste Mal miteinander rangen, war es angenehm, sportlich, wenn auch unerwartet für mich, aber ich war sofort 'im Bilde' und dachte: 'Oh, das gehört dann sicher zur Behandlung.'"
Nicht nur aus heutiger Sicht müssen Spiers Behandlungsmethoden außerordentlich irritieren, doch Hillesum - und die vielen anderen weiblichen Patientinnen - schienen diese Übergriffe zu tolerieren: "'Hören Sie mal, das erregt Sie doch hoffentlich nicht, denn letzten Endes fasse ich Sie doch überall an', und er berührte zur Demonstration mit seinen Händen kurz meine Brust und Arme und Schultern. [...] Er sagte dann auch noch, dass ich mich nicht in ihn verlieben dürfe und dass er das immer am Anfang sage, kurzum: Es war vertretbar, auch wenn ich mich dabei ein bisschen unwohl fühlte."
Trotzdem bleibt Spier der wesentliche Taktgeber für Hillesums weitere Entwicklung, die sie trotz der immer schlimmer werdenden Umstände konsequent verfolgt. Ihr Tagebuch legt fulminant davon Zeugnis ab, wie sich eine junge Intellektuelle erforscht, infrage stellt, ihr Verhältnis zur Welt, zu den Menschen, zu Gott immer wieder neu justiert. Dabei erweist sich Hillesum als überaus genaue Beobachterin ihrer selbst, die es mit Introspektion manches Mal übertreibt und ihrer selbst überdrüssig wird.
Stets ist sie auf der Suche nach dem rechten Ausdruck: "Warum hast du mich nicht zur Dichterin gemacht, mein Gott? Doch, du hast mich schon zu einer Dichterin gemacht, und ich werde geduldig warten, bis die Worte in mir herangewachsen sind, die all das bezeugen können, was ich bezeugen muss, mein Gott: dass es gut und schön ist, in deiner Welt zu leben, trotz allem, was wir Menschen einander antun." Sie scheint nicht zu realisieren, dass sie längst über diese Worte verfügt - und dass ihre Aufzeichnungen bereits Literatur von Weltrang sind.
Etty Hillesum wird ihre immense mentale Kraft auch für andere einsetzen: Freiwillig meldet sie sich zur Arbeit im Durchgangslager Westerbork, um den Deportierten beizustehen, zu denen bald ihre eigene Familie gehört. Über die Zustände dort wird sie ebenso intensiv schreiben - diese Notate gehören zu den wichtigsten Zeugnissen aus dem Sammellager. Am 7. September 1943 wird sie mit ihren Eltern und dem Bruder Mischa selbst nach Auschwitz deportiert und dort ermordet - ihr Bruder Jaap war bereits zuvor nach Riga verschleppt und erschossen worden.
Die Herausgabe aller erhaltenen Tagebücher und Briefe in deutscher Sprache ist eine verlegerische Tat und wird Etty Hillesum, die in den Niederlanden aus dem Erinnerungsdiskurs nicht wegzudenken ist, auch hierzulande endlich bekannter machen. Der beeindruckende Kommentarteil ist eine große Stärke der Publikation - aber ebenso ihre größte Schwäche: Auch wenn sich die Übersetzerinnen und der deutsche Herausgeber bemüht haben, den ursprünglich für den niederländischen Kontext erstellten Anmerkungsapparat den Bedürfnissen deutscher Leser anzupassen, gelingt das leider nicht immer.
Daneben gibt es sachliche Fehler oder werden Informationen unglücklich verteilt: Ödön von Horváth war schließlich nicht "Literaturwissenschaftler seit 1923", sondern Schriftsteller; einem deutschen Leser muss man zudem nicht erläutern, was es mit der Episode auf sich hat, als Baron Münchhausen sich und sein Pferd selbst aus dem Sumpf zieht. Dafür müsste er vielleicht aber erfahren, dass der Roman "Max Havelaar" des niederländischen Autors Eduard Douwes Dekker (alias Multatuli) nicht nur zum "Kanon der Schulbuchliteratur" gehört, sondern dessen Verfasser einer der wichtigsten Beiträger zur antikolonialen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts war. SASCHA FEUCHERT
Etty Hillesum: "Ich will die Chronistin dieser Zeit werden". Sämtliche Tagebücher und Briefe.
Aus dem Niederländischen von Christina Siever und Simone Schroth. Verlag C. H. Beck, München 2023. 989 S., geb.
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