Für Gerda gehört die Berliner Mauer zur Normalität. Erst wenn sie so alt ist wie ihre Oma, wird sie rüber in den Westen dürfen. Nur Vögel können einfach so über die Grenze fliegen. Vögel sind wichtig in Gerdas Familie. Ihr Vater hat eine geheimnisvolle Verbindung zu ihnen, und bei ihrer Oma lebt der Wellensittich Coco. Mit Gerda erleben wir eine entschwundene Welt mit Fahnenappell auf dem Schulhof, selbst gebastelten Friedenstauben und Westgeschenken.
Federleicht, anrührend, reich bebildert: DDR-Kindheit aus einer ganz persönlichen Vogel-Perspektive
Über die Reihe "Wir Kinder von früher":
In jeder Kindheit passieren Dinge, die man nie vergisst. Schlimme, lustige, aufregende - vor allem: selbst erlebte Geschichten. Diese Reihe weckt sie zum Leben. Für alle Kinder von heute und früher.
Besprechung vom 12.10.2024
Jeder soll fliegen können, wohin er will
Als die Welt noch ganz gewiss ein Ende hatte: Die Illustratorinnen Gerda Raidt und Daniela Kulot erzählen aus ihrer Kindheit.
Von Fridtjof Küchemann
Von Fridtjof Küchemann
Was wissen wir schon von den Grenzen dieser Welt? Dem Tod, dem Rand der Erde und überraschenden Vorlieben des älteren Bruders geht Daniela Kulot in ihrem Buch "Es geschah auch kein Unfug . . ." nach. Drei Geschichten schildert sie aus dem Alltag einer siebenköpfigen Familie auf dem oberbayerischen Land in den Siebzigerjahren. Gerda Raidt, Illustratorin und Autorin wie Daniela Kulot, erzählt in "Wie ein Vogel" von einer anderen Grenze ihrer Kindheit, die mitten durch ihre Heimatstadt führte, durch Berlin. Nur Vögel konnten sie überqueren - und die Großmutter der Erzählerin wurde auch durch diese Mauer gelassen.
Beide Titel sind in gleicher Aufmachung bei Klett Kinderbuch erschienen, als Auftakt einer Reihe mit dem Titel "Wir Kinder von früher", die im Frühjahrsprogramm des Verlags mit zwei weiteren Büchern fortgesetzt werden soll: Sie sehen aus, als wäre ein noch auf Fotopapier mit unregelmäßigem Rand entwickeltes Bild mit Tesafilm auf das Cover geklebt, das an die Textur alter Alben erinnert. Retro, würde man heute sagen. Und so sind die Geschichten auch gehalten: Sie erzählen in direkter Ansprache der Kinder von heute persönliche Erlebnisse und Eindrücke von früher.
Die Unabhängigkeit, die Freiheiten und auch die Risiken, die Daniela Kulot mit ihren Geschwistern eingegangen ist, werden ihr heute junges Publikum überraschen: In einer ersten Geschichte überredet Woffe, Danielas älterer Bruder, der schon zur Schule geht, seine kleine Schwester zum nächtlichen Ausflug in ihren Kindergarten, an dessen Zaun zwei Tage zuvor die Schildkröte Gertrud begraben worden war. Die beiden Kinder haben es auf ihren leeren Panzer abgesehen. Dass er leer wird, so viel wissen die beiden vom Tod, ist nur eine Frage der Zeit. Und der Würmer. Das Ganze wird einigermaßen gruselig, ein bisschen eklig und ziemlich lustig.
In einer zweiten Geschichte macht sich die Erzählerin mit ihrer Zwillingsschwester Wackel auf zum Ende der Welt. Auch wenn ihnen Woffe mit der ganzen Autorität des älteren Bruders erklärt hat, die Erde sei eine Kugel: Die beiden haben ihre Zweifel. Und beschließen bei nächster Gelegenheit, einmal nachzusehen, was eigentlich hinter den großen Bäumen am Horizont ist. Vielleicht ja ebendieses Ende der Welt. Aber der Weg dorthin ist wohl doch noch weiter, und als die beiden schließlich nicht mehr können und sich ins Gras fallen lassen, haben sie es noch lange nicht erreicht. In dieser Geschichte kommen auch die Eltern der insgesamt fünf Geschwister nicht nur am Rande vor: Auf einem Familienausflug in die Berge geben sie den Kindern Gelegenheit, mit eigenen Augen zu sehen, welche Form der Horizont hat, wenn man an einem klaren Tag von ziemlich weit oben über die Gegend schauen kann.
In einer dritten Geschichte ärgert sich Daniela über Wackel und die gemeinsame Freundin Moni beim Spielen mit Barbie-Puppen, klagt Woffe ihr Leid und erfährt, dass der große Bruder, den sie in seinem Versteck über der Jauchegrube im alten Schweinestall vom Bauern März besucht, unter seinem Bett in einer durchsichtigen Plastikverpackung ein weiteres Geheimnis versteckt, auf das er lange gespart hat: Er hat sich einen Ken gekauft, zeigt seiner kleinen Schwester, wie der Puppe der Bizeps schwellt, wenn man ihren Arm anwinkelt, und spricht sich zugleich entschieden dagegen aus, dass sein Ken die Barbies von Moni besuchen gehen könnte, denen doch ein Bräutigam fehlte: "Der hat echt anderes zu tun."
Weniger auf Pointe, dafür mit großer Ruhe und Bildkraft erzählt Gerda Raidt im zweiten "Wir Kinder von früher"-Band von ihren Erinnerungen in einer Stadt, in der nur der Himmel nicht geteilt war. Von ihrem Vater, einem großen Vogelfreund, der mit der Familie beim Waldspaziergang die schönen Eichelhäherfedern findet, kommt sie auf die Kindergärtnerin, die der kleinen Gerda ebendiese Federn angewidert aus der Hand schlägt, vom Kindergarten auf die Großmutter, die ihre Enkeltochter lieber jeden Nachmittag zu sich holt, statt sie stundenlang still liegen zu lassen, auch wenn sie mittags nicht mehr schlafen kann.
Mit dem Wellensittich der Großmutter wird wieder auf das Vogelthema angespielt, mit der Möglichkeit der alten Dame, als einzige Familie zum Einkaufen in den Westen der Stadt zu dürfen, die Situation im Ostteil Berlins zu Mauerzeiten. Einmal landet ein blauer Ara auf der Straßenlaterne vor dem Schreibtisch des Vaters, er lässt sich sogar fangen - aber niemand scheint ihn zu vermissen. Zumindest nicht in Ostberlin.
Taubenküken werden gefunden und aufgepäppelt, Friedenstauben aus Papier ausgeschnitten und an die Schulfenster geklebt. Wellensittiche sterben oder entwischen, bis schließlich eine Schulfreundin ihren Sittich über die Ferien bei Gerda in Pflege gibt - und selbst entwischt, in den Westen. In großen Zügen erzählt Gerda Raidt, 1975 geboren, wie ihr Leben nach dem Mauerfall weitergegangen ist, und in noch größeren, ganz im Stil eines alten Fotoalbums gehalten, aus der Kindheit ihres Vaters.
Die gestalterische Kraft der beiden erfahrenen Illustratorinnen von Kinderbüchern trägt wie gewohnt durch die Geschichten. Der erzählerische Ton, den sie anschlagen, ist hingegen ungewöhnlich: intim, direkt, mit kleinen Bekräftigungen und Schleifen, als würden sie den eigenen Enkelkindern erzählen. "Das muss man sich mal vorstellen!", heißt es bei Daniela Kulot an einer Stelle, Gerda Raidt wendet sich am Ende direkt an ihr junges Publikum: "Fragt mal eure Oma!" Und das wäre vielleicht das größte Geschenk, das diese Bücher, das diese Buchreihe Kinder und denen, die sie ihnen vorlesen, machen kann: sie daran zu erinnern, dass nicht nur in Büchern wie diesen, sondern auch in Großeltern viele Geschichten stecken, die es wert sind, erzählt und gehört zu werden.
Gerda Raidt: "Wie ein Vogel". Wir Kinder von früher.
Klett Kinderbuchverlag, Leipzig 2024. 88 S., geb., 16,- Euro. Ab 7 J.
Daniela Kulot: "Es geschah auch kein Unfug ...". Wir Kinder von früher.
Klett Kinderbuchverlag, Leipzig 2024. 96 S., geb., 16,- Euro. Ab 7 J.
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