Ein bisschen sperrig, liefert viel Stoff zum Nachdenken, etwas deprimierend, aber hochliterarisch.
"Es ist etwas Merkwürdiges, mit den Gedanken immer zum gleichen Tag zurückkehren zu müssen und alles, was danach geschehen ist, auf ihn zu beziehen. Ich weiß, dir kommt das absonderlich vor, aber für mich ist es ganz selbstverständlich, denn immer ist mir gegenwärtig, dass mein Leben ohne ihn anders verlaufen wäre." (S. 20)Als Elfjähriger ist Ich-Erzähler Karsten Leiser in den 1950er Jahren zusammen mit seinen Eltern aus dem (fiktiven) Ort Plothow in Brandenburg geflüchtet. Für den Jungen stellt sich die Flucht als Nacht- und Nebelaktion dar, er hat keine Möglichkeit, Abschied zu nehmen oder sich auf den bevorstehenden Umzug vorzubereiten. In der neuen (fiktiven) hessischen Heimat Wildenburg gelingt es ihm nicht, neue Wurzeln zu schlagen oder Freunde zu finden. Als Flüchtling wird er dort von Kameraden, Lehrern und Einheimischen ausgegrenzt und verhöhnt. Erschwerend kommt hinzu, dass seine Mutter schwer erkrankt und auf den Tag genau am Jahrestag der Flucht tragisch verstirbt. Damit nimmt ein lebenslanges Trauma seinen Anfang.Der Ich-Erzähler entwickelt jedes Jahr eine große Aversion gegen die Wiederkehr dieses Tages. Bereits im Vorfeld leidet er, ist er doch der tiefen Überzeugung, dass jedes Unglück ihn just an diesem Datum überfallen wird. Der gesamte Roman ist ein einziger Gedankenstrom. Karsten versucht seiner Freundin Vera innerhalb einer Nacht sein Dilemma um den Verlust der Heimat zu erklären. Er erzählt nicht chronologisch, sondern beginnt seine Erzählung von Anfang an in Abschnitten, so dass man höllisch aufpassen muss, alles Wichtige zu erfassen. Mit zunehmender Lektüre werden die angerissenen Handlungsfäden jedoch wieder aufgenommen und weiter verfolgt. Aber Achtung: Bereits auf Seite 19 bereitet uns der Erzähler darauf vor, dass er ein Lügner ist, der "immer lügt, wenn es um etwas Wichtiges geht." Es bleibt also dem Leser überlassen, ob er alles glauben will, was ihm erzählt wird.Gert Loschütz ist ein Könner seiner Zunft. Mit sehr viel Empathie lässt er uns in die Geschichte Karstens eintauchen, die offensichtlich starke biografische Züge trägt. Die Liebe zur Heimat, zur Landschaft, zu den zurückgebliebenen Großeltern wird in wunderbaren Sätzen fühlbar. Plothow ist Sehnsuchts- und vollkommener Glücksort für den Protagonisten. Die Flucht hat ihn davon getrennt. Alle weiteren Entwicklungen ergeben sich schicksalhaft genau daraus, werden darauf zurückgeführt. Insofern ist der Tag der Flucht der titelgebende Tag der nicht vorüber ist.Der Ich-Erzähler berichtet über die wesentlichen Ereignisse seines Lebens, die im Zusammenhang mit dem traurigen Jahrestag stehen. Als Journalist ist er herumgekommen, aber nirgends heimisch geworden. Er ist ein Einzelgänger, dessen Beziehungen mit Frauen nicht unter einem glücklichen Stern stehen. Am nächsten kommt ihm sicherlich Vera, aber auch die hat mit seiner Rückwärtsgewandtheit und seinem Nichtdrüberwegkommenwollen zu kämpfen.Man muss Zeit und Konzentration in diesen Roman investieren, nur dann wird man ihm gerecht. Während Loschütz? Schreibstil von der ersten Seite an fesselt, braucht man einige Seiten mehr, um auch inhaltlich im Buch anzukommen. Puzzlesteine finden sich zunehmend. Neben Plothow und Wildenburg spielt die Handlung auch in Irland und Italien.Über weite Strecken hat mich dieser Roman begeistert. Gert Loschütz ist ein brillanter Stilist, der schon mit einzelnen Sätzen unglaublich viel Intensität, Wärme und Atmosphäre transportieren kann. Die Erinnerungen des Protagonisten werden durch eindrückliche Bilder dargelegt, denen man sich schwer entziehen kann. Zudem haben mich Loschütz? selbstbewusste Wortschöpfungen begeistert, die wahrscheinlich nicht im Duden zu finden, aber in ihrer Aussage glasklar sind (z.B. Bittstellerhöflichkeit, Erinnerungsgefängnis, Entzündungsfessel oder Nebendirmensch).Die inhaltlich fesselnde Dichte kann der Roman meines Erachtens nicht bis ganz zum Schluss halten. Es ergeben sich Motive, die ich nicht klar zuordnen konnte. Ich habe die beiden Romane "Ein schönes Paar" und "Besichtigung eines Unglücks" mit großer Begeisterung gelesen, sie erscheinen mir vom Aufbau her etwas strukturierter und leichter zugänglich. Bei "Ballade vom Tag, der nicht vorüber ist" handelt es sich um ein früheres Werk des Autors, das bereits 1990 unter dem Titel "Flucht" bei Luchterhand aufgelegt wurde, aber auch heute noch einen hohen Grad an Aktualität besitzt.Ich halte Gert Loschütz für einen der begabtesten deutschsprachigen Romanciers. Insofern ist auch dieses Buch für alle Freunde guter Literatur unbedingt lesenswert. Es verströmt seinen einmalig melancholischen Loschütz-Sound und ich bin dem Verlag für die Wiederaufnahme des Romans mit dem neuen, wesentlich passenderen, Titel sehr dankbar. Ich wünsche ihm viele begeisterte Leser!