Gertrud Bing im Warburg-Cassirer-Kreis

Besprechung vom 06.12.2024

Im Netzwerk
Neues zu Aby Warburg und seinem Kreis

Die vor fünfzig Jahren einsetzende Wiederentdeckung Aby Warburgs verdankte sich nicht zuletzt Ernst Gombrichs 1970 erschienener "Intellektueller Biographie" des Hamburger Kunst- und Kulturwissenschaftlers. Nach ihr wagte sich lange niemand mehr an eine vergleichbare Aufgabe. Gombrich, vierter Direktor des Londoner Warburg Institute (WI), bot eine Fülle neuer Informationen, die sich auf seine intime Kenntnis von Warburgs Aufzeichnungen, Briefen, Notaten und Projektskizzen stützten. Um sie unter Anleitung von Gertrud Bing, Warburgs Assistentin der letzten fünf Lebensjahre, zumindest zu ordnen, war er Mitte der Dreißigerjahre aus Wien nach London gerufen worden.

Der Verfasser einer gerade erschienenen neuen Warburg-Biographie war in einer ähnlichen Lage. Hans Hönes, mittlerweile an der Universität Aberdeen, kam vor mehr als zehn Jahren als junger Kunsthistoriker aus München nach London, um an der Edition der recht enigmatischen "Fragmente zur Ausdruckskunde", einem der unvollendeten Vorhaben Warburgs, im Archiv des WI zu arbeiten. Ihnen ist nun auch ein eigenes Kapitel in der Biographie gewidmet. Warburg ging es in den "Fragmenten" um eine Ästhetik, die im älteren Sinn dieses Worts eine Lehre der Wahrnehmung, nicht des Schönen, sein sollte. Noch in seinem letzten Projekt, dem Bilderatlas, "Mnemosyne" spielen diese Überlegungen von 1896 bis 1905 eine wichtige Rolle. Hönes' Biographie eignet sich als Hinführung zu Warburg, bietet aber auch Kennern Einsichten. Grundsätzliches wird erklärt, Neues erörtert, die reichhaltige Literatur zu Warburg einbezogen.

Esoterischer als diese Biographie - weil eher an die Warburg-Forschung adressiert - ist eine Edition der Regensburger Komparatistin Dorothee Gelhard. Sie enthält die von 1909 bis 1924 reichende Korrespondenz Warburgs mit dem Heidelberger Altphilologen Franz Boll. Boll hatte das Standardwerk über griechische astrologische Texte samt deren Vor- und Nachgeschichte verfasst, das bei Warburg auf großes Interesse stieß. Eine Freundschaft und Zusammenarbeit entstand, die hier en détail dokumentiert wird. Einbezogen war seit 1912 auch der junge Fritz Saxl, ein anderer Wiener, zuerst Warburgs bibliothekarischer Hilfsarbeiter und später Direktor der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek (KBW) und des WI. Er wurde auf astrologische Suchfahrten in italienische Bibliotheken geschickt und fand dabei eines der ihn lebenslang beschäftigenden Themen.

Ein zweiter Band von Gelhard widmet sich Gertrud Bing und ihrer interdisziplinären Dissertation über Lessing, die hier erstmals ediert wird. Bing ergänzt darin Überlegungen Ernst Cassirers aus "Freiheit und Form" (1916), seiner Untersuchung zur deutschen Geistesgeschichte seit Leibniz. Eingeleitet wird der Band durch eine prägnante Darstellung von Bings Lebensweg und ihres Ideenreichtums. Sie war seit den späten Zwanzigerjahren, der Italienreise mit Warburg, das dynamische Element von KBW und später auch im WI. Von Warburg lernte sie ein neues Sehen, so wie zuvor von Cassirer neue Denkweisen. Den Schwung nahm sie nach London mit, ihre weit verzweigte Korrespondenz zeugt davon. Ihr Vorhaben einer Biographie Warburgs konnte sie nicht verwirklichen, es gibt nur (edierte) Fragmente.

Die beiden Bände beschäftigen sich mit Warburgs "Netzwerk", dem sich in den letzten Jahren das Interesse zugewandt hat. Man darf auf neue Editionen und Studien gespannt sein. MARTIN TREML

Hans C. Hönes: "Tangled Paths". A Life of Aby Warburg.

Reaktion Books, London 2024. 288 S., Abb., geb., 31,- Euro.

"Sternenfreundschaft". Die Korrespondenz von Aby Warburg und Franz Boll.

Hrsgg. von Dorothee Gelhard. Wallstein Verlag, Göttingen 2024. 380 S., Abb., geb., 44,- Euro.

"Gertrud Bing im Warburg-Cassirer-Kreis". Mit dem Text ihrer Dissertation von 1921.

Hrsgg. von D. Gelhard und Thomas Roider. Wallstein Verlag, Göttingen 2024. 248 S., Abb., geb.