Besprechung vom 12.02.2022
In Zeiten des Stimmungsterrorismus
Von guten und bösen Achsen: Gilles Kepel analysiert die Umwälzungen in Nordafrika und im Nahen Osten
Bei einem Buch Gilles Kepels sind die Erwartungen hoch. Seit drei Jahrzehnten legt der französische Sozialwissenschaftler und Fachmann für Islamismus triftige Werke vor. Sie haben die öffentliche Debatte über den Islam, die islamistische Gewalt und den Dschihad maßgeblich geprägt. Doch sein jüngstes Buch wird wohl kaum in den Kanon seiner großen Monographien eingehen.
Das hängt nicht nur damit zusammen, dass der Titel in die Irre führt. Kepel gelingt es zwar zu beschreiben, wie der Nahe Osten weitgehend selbstverschuldet in "Chaos" versinkt. Der Zusatz "und Covid" dient jedoch wohl vor allem der Verkaufsförderung. Im Buch selbst taucht der Verweis auf die Pandemie eher am Rande auf. Nicht eingelöst wird der Untertitel "Wie die Pandemie Nordafrika und den Nahen Osten verändert". Dabei würde man gern lesen, wie die einzelnen Regime mit der Pandemie umgehen und ob die Qualität der Gesundheitssysteme ein Abbild der Regierungsführung ist. Oder wie eine gute Behandlung oft zu einem Bonus für Regimetreue wird.
Kepels Leitmotiv ist die holzschnittartige Einteilung des Nahen Ostens und Nordafrikas in zwei Achsen: die gute Achse der Abraham-Abkommen, also der arabischen Länder, die im Jahr 2020 ihre Beziehungen mit Israel normalisiert haben, und der bösen Achse des politischen Islams, also der sunnitischen Muslimbruderschaft und des schiitischen Islams. Auf dem Schachbrett stehen die Vereinigten Arabischen Emirate, Marokko und Ägypten, ergänzt um Saudi-Arabien, ihren Kontrahenten Qatar, der Türkei und Iran gegenüber - und immer wieder ist Frankreich auf der guten Achse mit von der Partie.
Als das Buch erschien, war es indes von der Wirklichkeit schon teilweise überholt. Saudi-Arabien und die Emirate hatten ihren Boykott gegen Qatar beendet, die Türkei hatte begonnen, ihre Beziehungen mit den Emiraten, Ägypten und Israel zu verbessern, und es war weiterhin nicht zu erkennen, dass die Türkei angeblich so eng mit Iran zusammenarbeiten würde.
Der Umgang Kepels mit der Türkei, einem gewiss schwierigen Partner Europas, ist durchaus verblüffend. Es ist schon bemerkenswert, mit welcher Polemik sich Kepel unablässig am türkischen Präsidenten Tayyip Erdogan abarbeitet. Er macht ihn zum Mentor des politischen Islams schlechthin, der zudem mit seinen neoimperialen Ansprüchen die Pläne Frankreichs immer wieder durchkreuzt. Dem Autor entgeht indes, dass Erdogan als opportunistischer Machtmensch die Chancen nutzt, die andere ihm bieten.
Bei der Lektüre irritieren außerdem immer wieder die zahlreichen sachlichen Fehler, die die Frage aufwerfen, wo die Lektoren ihre Augen hatten. So wird der saudische König fünf Jahre älter gemacht, als er ist, das türkische Forschungsschiff Oruç Reis wird zum Kriegsschiff, der protestantische Johanniterorden wird zu einem katholischen. Kepel macht die zwei starken Männer der Vereinigten Arabischen Emirate, Muhammad Bin Zayed und Tahnoun Bin Zayed, zu Halbbrüdern, sie sind aber Vollbrüder derselben Mutter Fatima. In den Emiraten wohnen zehn Millionen Menschen, nicht drei Millionen, wie Kepel schreibt. Solche Fehler und Ungenauigkeiten setzen sich fort.
Ermüdend ist, wenn Kepel seitenlang minutiös Ereignisse mit dem Eifer eines gewissenhaften Chronisten referiert, ohne dass deren Relevanz ersichtlich wird. Die großen Linien verschwimmen. Wer aber zwei Drittel des Buches durchgehalten hat, wird endlich belohnt. Unbedingt lesenswert sind die Passagen über Algerien und die islamistische Szene in Frankreich. Geglückt ist die Darstellung der algerischen Protestbewegung Hirak und des kaputten algerischen Regimes, das versucht, mit Schuldzuweisungen an Frankreich etwas von seiner verlorenen Legitimation zu retten. Nachdem Kepel zuvor einen Zusammenbruch Ägyptens nicht ausgeschlossen hat, stellt er nun infrage, ob dem algerischen System zugetraut werden könne, zu überdauern.
In den Abschnitten, in denen Kepel das islamistische Milieu in Frankreich und dessen Funktionäre beschreibt, zeichnet er die Kampagne gegen den Lehrer Samuel Paty nach, die in dessen Enthauptung im Oktober 2020 gipfelte. Das Verbrechen sei "paradigmatisch für diese neue Phase des Terrors der vierten Generation", schreibt Kepel. Er nennt die jüngste Form des islamistischen Terrorismus "dschihadistischen Stimmungsterrorismus". Sie sei nicht mehr gekennzeichnet durch die Mitgliedschaft des Attentäters in einer pyramidal aufgebauten Organisation. Vielmehr lösten "Mobilisierungsbotschaften über die sozialen Netzwerke die kriminelle Tat" aus.
Kepel verteidigt die Formulierung eines "islamistischen Separatismus", die der französische Präsident Emmanuel Macron im Oktober 2020 verwendet hat, um den Kampf gegen islamistische Gewalt und islamistischen Terror zu rechtfertigen. Denn das islamistische Milieu in Frankreich lebe von einer "kulturellen Lossagung" und von der Teilung der Welt in "Gläubige" und "Ungläubige". Zur Tat schritten allerdings wiederholt junge Männer, die noch nicht lange in Frankreich gelebt hätten und nicht Opfer einer angeblichen "islamophoben Diskriminierung" waren.
Kepel blickt auf ihre nordafrikanischen Herkunftsländer, deren Entwicklungen er zu Recht für "besorgniserregend" hält. So trieben die Armut und der Verfall der politischen Ordnung die Menschen in eine illegale Auswanderung. Ihre islamistische Ideologie habe sich da bereits radikalisiert. Der letzte Anstoß, der sie zum Terror treibt, seien dann die Hassbotschaften in den sozialen Netzwerken des islamistischen Milieus in Frankreich.
Der Anhang enthält eine ausgesprochen umfangreiche Zeittafel. Verdienstvoller wäre ein Anmerkungsapparat gewesen. Außerdem wüsste man gelegentlich gern, woher genau der Autor seine Kenntnis bezogen hat, etwa wenn er schreibt, der Antiterrorpakt, den Donald Trump bei seinem Besuch in Saudi-Arabien besiegelt habe, sei es gewesen, der den "endgültigen Sturz des IS-'Kalifat'" herbeigeführt habe. RAINER HERMANN
Gilles Kepel: "Chaos und Covid". Wie die Pandemie Nordafrika und den Nahen Osten verändert.
Antje Kunstmann Verlag, München 2021. 360 S., geb.
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