Die beiden dunkel gekleideten Frauen nähern sich dem Anlegesteg des Dampfers, der die gegenüberliegenden Seiten des Genfer Sees miteinander verbindet.
Vor ihnen liegt ein Tag wie so viele zuvor: Wanderungen, Essen gehen, Besichtigungen.
Ihr Leben scheint nur daraus zu bestehen.
Als ein Mann in schäbiger Kleidung auf sie zugestürmt kommt und der Größeren der beiden mit der Faust gegen die Brust schlägt, sodass diese zusammenbricht, wissen beide nicht, was der Hintergrund dieser Attacke war.
Passanten rennen hinter dem Flüchtenden her, halten ihn fest und übergeben ihn der Polizei.
Die beiden Frauen besteigen den Dampfer.
"Was wollte der Mann von mir? Sicherlich wollte er meinte Uhr...", vermutet die Angegriffene.
Dann sackt sie zusammen. Als sie noch einmal kurz zu sich kommt, sagt sie "Was ist denn eigentlich geschehen?" Es sind ihre letzten Worte.
Wir alle wissen, wer die beiden Frauen waren: Elisabeth Amalie Eugenie, Kaiserin von Österreich und Königin von Ungarn. Unterwegs mit ihrer Hofdame Gräfin Irma Sztáray.
Es war der 10. September 1898.
Während die Kaiserin im Hotel Beau Rivage stirbt, sitzt der Kaiser in der Hofburg und schreibt einen Brief an seinen Engel.
Es ist das Ende einer langen Geschichte. Eines nicht sehr langen Lebens. Und vor allem: eines verschwendeten Lebens.
Wer denkt, seit dem Monumentalwerk von Brigitte Hamann über die Kaiserin sei nichts Nennenswertes mehr erschienen, täuscht sich. Den hier vorliegenden Band aus dem Kral-Verlag kann man jedem empfehlen, der sich fundiert über alle Facetten von Sisis Leben informieren will, ohne aberhunderte von Seiten lesen zu müssen.
Chronologisch sortiert präsentiert das Buch das Leben der Kaiserin und ihres Umfeldes ohne jede Schönfärberei.
Das ganz Besondere an dem Buch ist aber ohne jeden Zweifel die hervorragende Bebilderung.
Seite um Seite erschließt sich uns dieses Leben, das schlussendlich keinen bleibenden Nachhall in der österreichischen Geschichte hatte, dafür umso mehr in der Populärkultur.
Die Kaiserin hatte einen denkbar günstigen Start im Leben.
Da sie einem nicht thronfähigen Zweig des Hauses Wittelsbach entstammte (in Bayern - nicht von Bayern), konnte die Familie ein sorgenfreies Leben führen und musste sich keinen königlichen Pflichten unterwerfen. zudem verfügte die herzogliche Familie über genügend Geld, um einen recht exzentrischen Lebensstil mit vielen Reisen zu pflegen.
Mit zahlreichen, auch weniger bekannten Abbildungen und Zitaten stellt uns das Buch diese Herkunft Sisis vor. Den exzentrischen Vater und die Mutter, die weit unter ihren Schwestern heiraten musste. (Eine war Königin von Sachsen geworden, eine andere Kaiserin von Österreich)
Von den üblichen royalen Erziehungsmaßnahmen verschont geblieben, lebte Sisi ein freies und ungezwungenes Leben. Fast so idyllisch wie Ernst Marischka es uns in seinen Sissi-Filmen vorführt.
Der Nachteil dieses Lebens tat sich allerdings auf, als der Kaiser beschloss, nicht die ältere Schwester Helene, sondern die 15jährige Sisi zu heiraten.
Mitten in den höchst intriganten Wiener Hof gestoßen, fand sich das Mädchen wieder in einem wahren Haifischbecken. Erzherzogin Sophie, die verhasste Schwiegermutter, sah sich mit der Aufgabe konfrontiert, aus dem unwilligen Backfisch mit den gelben Zähnen eine Kaiserin von Österreich zu machen.
Hier liegt nun ein ganz großes Plus des Buches: niemals lassen sich die Autoren von den tiefhängenden Früchten des schlechten Rufes der Protagonisten verführen.
Sie stellen uns alle am Drama Beteiligten in ihren Facetten vor.
Erzherzogin Sophie, die ihren Mann dazu gebracht hatte, zugunsten des Sohnes Franz Josef abzudanken, wusste nur all zu gut, welche Last es bedeutet, Kaiserin zu sein, wenn man begriffen hat, was der "Job" erfordert.
Es war Sisis Tragik, das sie es nicht begriffen hat. Auch war sie nicht das kalte Biest, als das sie in den Sissi-Filmen dargestellt wurde, sondern nahm zum Beispiel am Leben der Enkelkinder lebhaften Anteil und wurde von diesem wiedergeliebt.
Im Buch kommt ein sehr erhellendes Zitat Sisis vor: "Was hat man davon, heutzutage Kaiserin zu sein!" bemerkte sie voll Bitterkeit. "Man ist nur eine Anziehpuppe. Ah, wie gern hätte ich im alten Rom geherrscht! Die Kaiserinnen vergangener Tage wußten noch, was Tiefe des Lebens und der Liebe ist. Ihr Dasein war nicht grau und trübe, wie das meine, das von einem Wall von Etiketten ummauert ist."
Das dürfte das gröbste Unverständnis römischer Kaiserinnen sein, das ich je gelesen habe...
Ausgerechnet Sisi, die jegliche Pflicht ablehnte, die sich keinen Pfifferling um ihr Land, ihren Mann oder die ihr untergebenen Völker scherte - ausgerechnet sie sehnt sich nach der Position einer römischen Kaiserin.
Das hat was.
Solche Stellen sind es, die das Buch so ungeheuer lesenswert machen, denn sie stellen uns die betreffenden Personen so eindrücklich vor wie ein Blitz, der plötzlich eine dunkle Landschaft erhellt.
Wir lernen Sisi in dem Buch aber auch noch anders kennen, nämlich von ihrer humorvollen Seite ... So als ihr Gegenüber bei einem Essen mit seinen Zahnstochern spielte, und dabei einen versehentlich in Sisis Teller schnippte. Sie bekam daraufhin einen Lachanfall. Der Kaiser, der den Vorfall nicht bekommen hatte, fragte, was denn passiert sei, worauf Sisi dem hochverlegenen Grafen die Ehre rettete, indem sie ihn nicht verriet, sondern unter Lachtränen sagte, es sie nichts passiert, sie habe nur gerade an etwas denken müssen.
Wir lernen in dem Buch sogar, dass die Kinder ihre Mutter "Mamutz" genannt haben und sich über jede Minute freuten, die sie bei ihnen verbrachte, auch wenn es dann jedesmal Theater gab. (Ich persönlich denke, sie wurden Opfer des Stockholm-Syndroms ...)
Sisi hielt nämlich mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg. So setzte sie ihrer Schwiegertochter Stephanie in absolut herzloser Weise nach.
Nach dem Selbstmord des Thronfolgers überfiel sie die verhasste junge Frau mit den Worten, diese habe ihren Vater gehasst, ihren Ehemann nicht geliebt und liebe auch ihr Kind nicht.
Dazu gehört schon etwas. Zumal Rudolf der Auslöser aller Misere war. Man geht heute davon aus, dass er seine Frau mit einer Geschlechtskrankheit angesteckt hat und sie deswegen keine Kinder mehr bekommen konnte. Seine Alkohol,- und Drogensucht war auch seiner Mutter bekannt. Von seinen zahlreichen Affären mal ganz zu schweigen.
Dennoch kippte Sisi allen Hass über Stephanie aus, die sicherlich nicht das einfachste Leben hatte, zumal sie sogar ihren Vater hatte verklagen müssen, um das mütterliche Erbe ausgezahlt zu bekommen. (Dies vor dem Hintergrund, dass ihr Vater der berüchtigte Leopold II von Belgien war, der im Kongo ein Gewaltregime führte.)
Natürlich darf auch Sisis Ernährung als Thema nicht fehlen ... Die Autoren untersuchen die Quellen dazu genauer und kommen zu dem Ergebnis, dass Sisi nicht ausschließlich von Brühen und Luft lebte, sondern vielmehr einen eher exzentrischen Geschmack hatte. Es war eine Art Achterbahn-Ernährung: Sisi ernährte sich tagelang von Säften und Milch, um dann wieder richtig zuzuschlagen. So aß sie - wenn sie in München war - grundsätzlich im Hofbräuhaus. Bayerisch. Deftig. Unterwegs mussten immer die Produkte der Heimat vorhanden sein, was einen ziemlichen organisatorischen und finanziellen Aufwand bedeutete. Da durften auch bestimmte Mehlspeisen zum Frühstück nicht fehlen.
Als Fazit kann man sicherlich sagen, dass Sisi so sportverrückt wie zum Beispiel Prinzessin Catherine war, dass man aber um die Ernährung der Prinzessin von Wales weniger Aufhebens macht.
Eine Essstörung, wie sie oft unterstellt wurde, hatte Sisi wohl nicht.
Was sie aber sicherlich hatte, war Realitätsferne.
So schildert das Buch sehr genüsslich einen Dialog zwischen ihrer Hofdame und der Kaiserin, den die Gräfin Festetics in ihrem Tagebuch notierte:
"Wir gingen auf dem Sikló hinab nach Pest. Im Coupé sagte Sie mir: "Haben Sie Geld?" - "Ja, Majestät." - "Wie viel?" - "Nicht sehr viel, 20 Forint." - "Das ist ja viel." - "Nicht besonders." - "Kann man nicht viel kaufen? Ich möchte zu Kugler (Konditorei) und für Valerie Einkäufe machen." (...) Glücklich unbemerkt kommen wir hinüber, dort fielen die Leute vor Überraschung fast um. Sie kaufte mit Wonne, und als ein großer Haufen der schönsten und besten Sachen beisammen war, fragte Sie: "Ist es schon zwanzig Forint wert?" Ich glaube, es war für 150 Forint."
Es sind diese kleinen Histörchen, die das Buch für mich so spannend machen und das Bild der Kaiserin vervollständigen.
FAZIT:
Das Buch ist rundum empfehlenswert. Nicht nur für diejenigen, die sich schon eingehend mit der Kaiserin beschäftigt haben, sondern auch für die Neu-Interessierten.
Es besticht nicht nur durch Fachkenntnis und einen unterhaltsamen Aufbau, sondern besondern durch liebevoll gemachtes Design und Foto-Qualität. Es ist einfach ein Genuss, es durchzublättern und immer wieder an bekannten und unbekannten Abbildungen hängen zu bleiben.
Hierbei sei auch darauf hingewiesen, dass "Elisabeth - Ungewöhnlich war sie zu allen Zeiten" ein Buch ist, bei dem man die Untertitel der Fotos unbedingt lesen sollte, da sie immer wieder Interessantes wiedergeben und nicht nur festhalten, was auf dem Foto zu sehen ist.
Das Preis-Leistungsverhältnis ist sehr gut. Man bekommt wirklich etwas ganz Besonderes für sein Geld.
Für mich persönlich hat sich der Kral-Verlag mit dem Buch in meinen Fokus geschoben und ich werde mir mit Sicherheit noch mehr Titel aus dem Verlag besorgen.