
Besprechung vom 27.09.2025
Raumschiffstaat auf Hadesfahrt
Es fällt kein Rindel-Groschen: Harry Martinsons befremdliches Weltraum-Epos "Aniara", neu übersetzt
Im Nachwort zu "Aniara" berichtet der schwedische Journalist und Autor Alex Schulman, wie sein Großvater, der Schriftsteller Sven Stolpe, gegen Ende seines Lebens die zahlreichen selbst geschriebenen Bücher ein weiteres Mal gelesen und mit Randnotizen versehen habe. Hingerissen vom eigenen Genie habe Stolpe Absatz um Absatz mit Adjektiven wie "zauberhaft", "brillant" und "überwältigend" versehen. "Aniara", das 1956 erschienene Weltraum-Epos seines Freundes Harry Martinson, habe ihm dagegen groteskerweise gar nicht gefallen.
Heute ist Sven Stolpe außerhalb Schwedens weitgehend unbekannt, Harry Martinson, geboren 1904 im südschwedischen Blekinge, gestorben 1978 in Stockholm, bekam dagegen 1974 den Nobelpreis für Literatur zugesprochen. "Aniara" gilt als sein Hauptwerk. Eine Erklärung dafür liefert Schulmans Nachwort allerdings nicht, so selbstverständlich scheint die Bedeutung dieses Science-Fiction-Epos dem Schweden zu sein.
In der nun vorliegenden Neuübersetzung von Lena Mareen Bruns (eine erste, heute komplett vergriffene Übersetzung erschien 1961) muss man sich den Inhalt erst einmal mühsam zusammenreimen: "Aniara" spielt in der Zukunft, die Erde ist durch Kriege und ökologische Katastrophen verheert, Millionen Menschen werden in riesigen Raumtransportern zum Mars geflogen, um dort eine neue Welt aufzubauen. Einer dieser Transporter, die Aniara, mit 8000 Passagieren an Bord, kommt durch eine Kollision mit einem Asteroiden vom Kurs ab und treibt, ihres Antriebs beraubt, in die Tiefen des Alls. Ein "Raumschiffstaat" auf "Hadesfahrt", wie es an einer Stelle heißt.
Angesichts der aussichtslosen Lage wenden sich die Passagiere einer neuen Religion zu. Sie verehren die "Mima", eine, wie man heute sagen würde, Künstliche Intelligenz: "Die Mima fand zu ihrem Stil, / bildete ein neues Bewusstsein von sich selbst aus, / von ihrer Eignung und ihren Grenzen: / eine machtvolle Kraft ohne Überheblichkeit."
So könnte man "Aniara" für ein heute noch aktuelles, geradezu prophetisches Werk halten. Nur leider wirkt es zumindest auf Deutsch wirr, unbeholfen, künstlich verrätselt, ja mitunter hanebüchen und wie eine Parodie seiner selbst. Da reimt sich nicht nur äußerst mau "Land" auf "ihrer Fäuste Pfand" und "Tal" auf "Saal", da ist unfreiwillig komisch die Rede von einer Poetin, die "blind / in der Finsternis erfand die Gesänge vom Rind". Und nimmt man eben noch eine enigmatische "Gopta-Lehre" in Kauf, folgt auf dem Fuß auch schon die "Tensortheorie", "die nach der Formel gopta von qwi / eindeutig harmonisiert wurde". Bitte was? Und wie hört es sich an, wenn der "Rindel-Groschen tönt mit seinen Gondi"?
Umso erstaunlicher ist die herausgehobene Stellung "Aniaras" in der schwedischen Literatur, blickt man auf andere Werke Martinsons, wie etwa seine bezaubernden Naturbetrachtungen, die unter dem Titel "Schwärmer und Schnaken" 2021 auf Deutsch ebenso im Guggolz Verlag erschienen sind wie 2017 mit "Reisen ohne Ziel" seine Erinnerungen an die Zeit seiner Fahrten als Matrose auf verschiedenen Frachtschiffen auf Kanälen und Weltmeeren. In diesen Büchern erweist sich Martinson als kluger Beobachter und feiner Stilist voll Witz, etwa wenn er davon berichtet, wie er Mitte der Zwanzigerjahre sein Geld kurzzeitig damit verdiente, in mondänen Villen Rio de Janeiros die Böden zu wachsen, und beim Anblick einer traurigen, wie ein Vogel im goldenen Käfig hockenden Dame des Hauses etwas "Sympathie ins Bohnerwachs" mischte.
Diese "Reisen ohne Ziel" wirken wie eine einzigartige Mischung der Berliner Feuilletons Franz Hessels und der weltgewandten Reportagen Egon Erwin Kischs. Wer braucht, denkt man da, zwischen Montevideo, Reykjavík und Calabozo, schon den Weltraum, uns daran zu erinnern, wie schön und schützenswert die Erde ist? TOBIAS LEHMKUHL
Harry Martinson: "Aniara". Roman.
Aus dem Schwedischen von Lena Mareen. Guggolz Verlag, Berlin 2025. 184 S., geb.
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