Trotz weniger Erinnerungsstücke hat der Autor dank seiner guten Recherchen erstaunlich viel über seine Urgroßmutter herausgefunden. Deutlich besser und berührender als erwartet.
Wie schreibt man eine Biografie über eine Frau, die man nie gekannt hat und von der es kaum noch Spuren oder Erinnerungen gibt? Ich finde, der Autor Henning Sußebach hat das mit diesem Buch sehr gut umgesetzt. Er möchte einen Teil seiner Urgroßmutter mit diesem Buch verewigen. Dazu hat er die letzten Fetzen der Erinnerungen aus den Erzählungen seiner Familie, wenigen Fotos und einer sehr guten Recherche über den Ort und das Zeitgeschehen in diesem Werk zusammengetragen.
Als junges Mädchen wird Anna 1887 nach Cobbenrode ins Sauerland geschickt, um dort die Jugend des Dorfes zu Unterrichten. Bisher gibt es nur einen Lehrer vor Ort, nun soll Anna helfen. Auch wenn man nicht mit Gewissheit sagen kann, wie sie die Jahre als Lehrerin verbracht hat, so weiß man eines ganz genau, sie übt diesen Beruf nicht für ihr restliches Leben aus. Anna verliebt sich. Doch wird es Lehrerinnen nicht geduldet, zu heiraten. Das ist leider nicht alles, was gegen eine Ehe spricht. Wie sie ihren Weg entgegen den Erwartungen meistert, erzählt uns ihr Urgroßenkel in diesem Buch.
Mir stellte sich zu Beginn des Buches die Frage, was Anna für den Autor so besonders macht, dass es sich lohnt ein Buch über diese Frau zu schreiben. Klar, diese Frau ist seine Urgroßmutter, aber da musste noch etwas anderes sein, was sie für ihn zu einer so wichtigen Person auszeichnete. Den Beweis dazu bekam ich. Denn es wurde deutlich, dass Anna eine Kämpfernatur war. Zu Zeiten, in denen Frauen eher eine sehr untergeordnete Rolle spielten, bewies Anna viel Stärke und Mut. Sie ging ihren eigenen Weg, auch wenn die Bewohner des Dorfes vielleicht etwas anderes von ihr erwarteten.
Ich finde es schon sehr erstaunlich, wie viel der Autor über Anna herausgefunden hat, obwohl er kaum etwas in der Hand hatte. Man spürt deutlich den Umfang und die Mühe seiner Recherchen. Zudem beschreibt er Annas Lebensgeschichte sehr anschaulich und versucht damit eine nähere Beziehung herzustellen. Ich konnte mich in gewisse Szenen sehr gut hineinversetzen. Besonders die Berichte um die Zeit des ersten Weltkriegs, in der jeder auf seine Art kämpfen musste, ob nun an der Front oder zu Hause, berührten mich sehr. Der Autor stellt Vermutungen an, wie Annas Leben verlaufen sein könnte. Ob es denn so war, kann niemand mehr sagen, aber ich habe seinen Erzählungen sehr gern gelauscht und es bedauert, dass es so wenig handfestes Material über diese Frau gibt. Da der Autor in der dritten Person erzählt, hatte ich besonders zu Anfang Zweifel, ob ich eine Nähe zu Anna aufbauen kann. Doch Henning Sußebach hier viel Einfühlungsvermögen bewiesen und das möglichst Beste aus seinen Nachforschungen herausgeholt. Die Art und Weise, wie er seine Urgroßmutter zum Leben erweckt, ihr eine Stimme und einen Charakter gibt, hat mir sehr gefallen.
Sehr anschaulich fand ich auch die Aneinanderreihungen der weltbewegenden Ereignisse mit einem Vergleich, was sich zu dieser Zeit im kleinen Dorf Cobbenrode abgespielt hat.
Da ich selbst aus der Nähe von Cobbenrode komme, war ich besonders gespannt auf Annas Biografie. Denn über diese weit zurückreichende Zeit habe ich bisher nicht viel gelesen. Viele Namen und Orte, die sich im Buch finden, bestehen noch heute und sind mir geläufig. Das hat das Lesen dieser Zeilen für mich natürlich noch spannender gemacht. Letztendlich hat mir das Buch sogar besser gefallen als ich ursprünglich erwartet hatte.