Ich hätte nicht gedacht, dass mich ein Jugendbuch überraschen könnte, zumal ich nicht mehr wirklich zur Zielgruppe gehöre. "Was du nicht erwartest" von Jan Cole hat es aber dennoch geschafft. Die Geschichte ist rasant erzählt und punktet durch Tiefgang, Sachkenntnis und sensiblen Umgang mit Themen wie Autismus, Anorexie/Bulimie und Liebe. Ein leicht zu lesendes Buch, das nie seicht oder oberflächlich, plakativ oder stereotyp ist.Aber von vorn.Nik und Maike lernen sich in der Kinder- und Jugendpsychiatrie kennen. Nik ist 16 und Autist. Er hat an einer Haltestelle jemanden gesehen und seither fühlt er sich komisch. Ist er tatsächlich verliebt? Er beginnt ein Experiment, um sich über seine Gefühle klarer zu werden. Bei der Durchführung wird er gestört und für seine Mutter bringt diese Aktion das Fass zum Überlaufen. Sie hat schon länger das Gefühl, ihn nicht mehr zu verstehen und nicht mehr mit ihm zurecht zu kommen. Daher befürwortet sie für ihn einen Aufenthalt in der Psychiatrie. Ähnlich geht es auch der Mutter von Mai, allerdings aus anderen Gründen. Die fast 18Jährige ist magersüchtig. In der Psychiatrie treffen sich die beiden, nach ein paar Tagen beschließen sie, Niks Experiment zu Ende zu führen. Das geht natürlich nur draußen. Daher planen sie ihren gemeinsamen Ausbruch. Dieser gelingt. Aber das ist nur der Anfang einer wilden Tour von Berlin nach Frankfurt, einer Tour auf den Spuren von Liebe, Freundschaft und Erwachsenwerden.Erwartungen hatte ich an das Buch nur wenige, daher konnte Jan Cole sie nicht enttäuschen. Als ehemals magersüchtiger Autist kenne ich die Themen auf jeden Fall ziemlich gut. Würde der Autor es schaffen, die Schwierigkeiten der beiden Teenager angemessen darzustellen? Würde er in die Klischee-Falle tappen? Tatsächlich schafft er es, fast jedes Stereotyp aufzugreifen, diese aber in seiner ganz eigenen Art einzuordnen (okay, die Mitarbeitenden in der Psychiatrie sind möglicherweise zu klischeehaft beschrieben, aber das kann ich nicht abschließend beurteilen). Nik mag keine Berührungen, klopft sich mit beiden Händen an den Kopf, Zahlen scheinen ihn ebenfalls zu beruhigen, genauso wie seine Mütze, Regelmäßigkeiten und Ordnung. Diese Dinge gehören einfach zu ihm. Mai zählt auch, nämlich Kalorien. Sie braucht es, um sich zu beruhigen und sicher zu fühlen, es ist ein Teil ihrer Krankheit und ihres Selbst. ("Vielleicht weil ich nicht weiß, wo die Magersucht aufhört und ich anfange. Vielleicht bleibt gar nichts mehr von mir übrig, wenn die Krankheit weg ist.")Erzählt wird die Geschichte aus den Perspektiven von Nik und Mai, die Kapitel sind mit dem Namen des Erzählenden und dem Ort des Geschehens überschrieben. Das Nachwort ist ein Interview, in dem der Autors seine (fiktiven) Protagonisten zu Wort kommen lässt. Damit bringt er seine Geschichte zu einem stimmigen Schluss. Ein wirklich cleverer Twist ist auch, dass Jan Cole selbst in seinem Buch mitspielt, sogar das Buch spielt eine Rolle. Zum "Warum" möchte ich nicht spoilern.Für Menschen, die mit den Themen Autismus und Magersucht noch nichts zu tun hatten, könnte das Buch augenöffnend sein. Der Autor greift beispielsweise die Behauptungen auf, Autismus sei "diese Behinderung, die durch Impfstoffe entstehen kann" und dass es früher nicht so viele Autisten gegeben hätte. Nik stellt klar: "Autismus hat mit Impfstoffen nichts zu tun" und "Natürlich gab es früher auch Autisten, man hat das nur nicht so genannt." Das zu lesen tut mir wirklich gut, denn das ist absolut korrekt. Auch Mais Anorexie beleuchtet der Autor sehr sensibel, inklusive ihrer Fähigkeit, ihren Zustand sehr lang zu verheimlichen, sodass Nik lange nicht erkennt, wie schlecht es ihr wirklich geht. Jan Cole hat ein Buch geschrieben, das die Erwartungen, die ich gar nicht hatte, erfüllt, ja sogar übertroffen hat. Ein Buch, das ich jedem, der ein sensibles Werk zu den Themen Autismus, Magersucht, Liebe und Coming-of-Age, ans Herz lege (Triggerwarnung am Anfang beachten!). Von mir fünf Sterne.