Statt einer Zusammenfassung an dieser Stelle der erste Satz des Buches: Letzten Monat ist meine Mutter verstorben. Jan Kuhlbrodt Krüppelpassion, ausgezeichnet mit dem Alfred-Döblin-Preis 2023. Lesen, drüber nachdenken, meint @LiteraTüren.
Vom Gehen als zentraler Bestandteil dieser Welt
Wir gehen und verwenden das Verb gehen wie selbstverständlich. Zum Beispiel mit: Mir geht es gut. Wie wir so viele Dinge als selbstverständlich ansehen, schwadronieren, uns selbst betrügen mit Nichtigkeiten. In Krüppelpassion wird das Gehen zum Synonym für das Nichtmehrgehen einer Lebens-Situation.
Letzten Monat ist meine Mutter verstorben. Schnell erfahren wir, dass der Ich-Erzähler an der gleichen Erkrankung leidet wie die verstorbene Mutter. Er vertieft dies: Wie meine Mutter, so werde ich einmal liegen. Was macht das mit Einem? Ich kann es mir nicht vorstellen, aber ich kann Kuhlbrodt lesen, der es mir erzählt.
Papierwelt
Jan Kuhlbrodt erzählt seine Geschichte. In kurzen Kapiteln, episodenhaft beinahe und nicht chronologisch geordnet. Er erzählt aus Gegenwart und Vergangenheit, aus dem Ausschluss aus der Gesellschaft durch Nicht-Gehen-Können, aus der Jugend in der DDR, der Militärzeit, den ersten Anzeichen der fatalen Krankheit.
Die Welt wurde mir zu Papier, das, was ich sah und sehe, wird mehr und mehr zu Worten, zu Schrift. Und die Welt verändert sich, ... wenn ich die Krankheit bin, oder die Krankheit ist ich.
Ein lautes, leises Denken
Wer aus der Gesellschaft ausgeschlossen wird, verschwindet. Die Gesellschaft will nichts sehen. Auch wenn sie etwas anderes behauptet und so tut als ob.
Umso wichtiger, dass Autoren wie Kuhlbrodt die Augen der Gesellschaft öffnen. Mit anspruchsvoller Literatur, mit Ehrlichkeit und Authentizität. Mit lauten Gedanken, die uns leiser werden lassen. Aufmerksamer, bewusster, nachdenklicher.
Jan Kuhlbrodt: Krüppelpassion
Gans Verlag 2023