Besprechung vom 05.09.2025
Alle Babyfotos sind verbrannt
Wenn Knochen uns anschreien, sollten wir zuhören: Jehona Kicajs Roman "ë" erzählt vom Krieg im Kosovo und von seiner Präsenz in unserer Gegenwart.
Als im Frühjahr 1999 die Meldungen aus dem Kosovo immer düsterer wurden, als von heftigen Kämpfen zwischen Serben und Albanern berichtet wurde, bei denen viele Tausend Zivilisten aus der Region vertrieben und weitere ermordet wurden, bis schließlich die NATO eingriff und einen Waffenstillstand herbeiführte, in dieser Zeit also wurde in deutschen Schulklassen für die zivilen Opfer des Krieges gesammelt. Auch in der Klasse, die von der Erzählerin in Jehona Kicajs Roman "ë" besucht wird - das Mädchen, dessen Namen wir nicht erfahren, ist 1999 etwa acht Jahre alt und lebt seit der Kindergartenzeit mit seiner Familie in Deutschland.
Jedes Kind besorgt einen bestimmten Gegenstand für das Hilfspaket, das die Schule ins Kosovo verschicken will. Dann sitzt die Klasse beisammen, und Frau Wagner, die Lehrerin, spricht über den Krieg in der Region, von "schlimmen Dingen", die dort passierten, von vertriebenen Kindern und niedergebrannten Häusern: "Ich hörte ihr aufmerksam zu, bis sich unsere Blicke trafen. Sie rief meinen Namen und bat mich, etwas zur Situation im Kosovo zu sagen. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, denn sie hatte keine Frage gestellt." Das Mädchen schweigt, die Lehrerin bedrängt sie mit Sätzen wie "Du hast doch sicherlich Familie dort" und was die Angehörigen denn erlebt hätten. Schließlich gibt die Pädagogin vorerst Ruhe: "Vielleicht ein andermal." Die Achtjährige aber beißt sich auf die Lippen, "damit sie nicht zitterten".
Was die mittlerweile längst erwachsene Erzählerin nun aus der Rückschau schildert, ist nicht das, was die Lehrerin damals erwartet hatte - oder zumindest nicht nur das. Sie erzählt auf hundertsiebzig Seiten davon, wie sie, die damals von den Erlebnissen der Verwandten und anderer Bewohner des Kosovos "nur eine dunkle Ahnung hatte", über die sie nicht sprechen konnte, nun anfängt, dieses Dunkel für sich auszuleuchten. Das heißt auch, dass sie nachfragt, wo sie früher die Dinge nur hingenommen hatte, etwa das Verschwinden des Großvaters, der zusammen mit der Familie geflohen war, dann von der Gruppe getrennt wurde und nie wieder auftauchte. Oder dass sie sich Situationen ins Gedächtnis ruft, die sie als Kind deutlich von ihren Klassenkameraden getrennt hatten - wie soll man ein Babyfoto von sich in die Schule mitbringen, wenn alle Bilder aus der alten Heimat verbrannt sind?
Vor allem aber macht sie sich bewusst, wie wenig ihre deutsche Umgebung davon wissen will, was im Kosovo geschehen ist, und wie sich die Maßstäbe verschieben, wenn man sich mit den Ereignissen von einer entfernten Position aus beschäftigt. Einmal wird die Erzählerin auf die Vortragsreihe einer Forensikerin aufmerksam, die in einem Hörsaal von ihrer Arbeit an den Leichen der im Kosovo Ermordeten erzählt, davon, wie sie die Knochen "zum Sprechen bringt", wie es heißt. Die Expertin berichtet vom genauen oder ungefähren Identifizieren der Toten anhand der Beschaffenheit der Überreste, vom Bestimmen der mutmaßlichen Todesursache, davon, was sich anhand der getragenen Kleidung sagen lässt. Die erste Frage aus dem Publikum gilt aber nicht dem Vortrag. Stattdessen will ein Zuhörer wissen, wie die Forensikerin das NATO-Bombardement beurteilt, das "ohne Uno-Mandat" unternommen wurde. Sie sei froh über den Einsatz, antwortet sie nur, denn andernfalls hätte sie zusammen mit ihren Kollegen wohl "wesentlich mehr zu tun gehabt".
Jehona Kicajs Debütroman zeichnet diese Suche der Protagonistin nach, die vieles zusammenträgt und neu bewertet, was sie erlebt und seinerzeit womöglich auch verdrängt hat - lauter kleine und größere Irritationen, die quer zu dem Wunsch standen, unter den Deutschen nicht aufzufallen. Als ihr Freund Elias sie eines Tages in sein Elternhaus mitnimmt, in dem noch Karl-May-Bände stehen, stößt sie auf den Roman "Durch das Land der Skipetaren" mit seinem klischeehaften Bild der Albaner, was ihren Freund offensichtlich nicht weiter gestört hat. An der Uni bemüht sich eine junge Serbin um ihre Freundschaft, die nur entstehen kann, weil alles Politische unerörtert bleibt, bis auf einer Feier auf einmal ein Video mit der "wahren" kosovarischen Nationalhymne abgespielt wird, die das Gebiet als Teil Serbiens beschreibt. Und wenn gedankenlose deutsche Kommilitonen auf einer Reise im Kosovo mit dem Einspruch derer konfrontiert werden, die sich besser mit dem dortigen Leid und Unrecht auskennen, heißt es, "Gefühle" seien "verletzt worden" - offen bleibt, ob damit nicht die der arglosen Besucher aus dem Westen gemeint sind.
Die Erfahrung jedenfalls, dass mit Sprache und Zuschreibungen eine Realität erst geschaffen wird, macht die Protagonistin immer wieder. Was ist sagbar, was geht einem nicht über die Lippen? Die 1991 geborene Jehona Kicaj beginnt ihr Buch mit einer einprägsamen Szene, in der ihre Erzählerin nach dem Schlafen ein abgebrochenes Stück eines Zahns in ihrem Mund vorfindet und von ihrem Arzt erfährt, dass ihr Kiefer nachts so kräftig arbeitet, dass darunter nicht nur die Muskulatur leidet, sondern eben auch das Gebiss. Eine "Auto-Destruktion" der Zähne nennt er das. Der dezidierte Vorsatz des einstigen Kindes, sich im Klassenzimmer "durchzubeißen", hat offensichtlich Folgen. Und wenn ihr Zahnarzt davon spricht, jeder Biss sei einzigartig und persönlich, dann trifft sich das auf unheimliche Weise mit den Schilderungen der Forensikerin.
Kicajs Roman erzählt, deutet an, assoziiert und lässt ein Bild von Heimat und Heimatsuche entstehen, das weit über das individuelle Schicksal der Protagonistin hinausweist und die Grenze zwischen Leben und Tod immer wieder durchlöchert. Wer das Gefühl hat, von Knochen förmlich "angeschrien" zu werden, der wird auch mit den Toten nicht abschließen, und wo etwa Schuhe derart geschickt für die Erzählung benutzt werden wie in diesem Roman, da bleibt im Gewebe des Textes kein Faden lose. Denn Schuhe avancieren hier zum Liebesbeweis, wenn sie verschenkt oder getragen werden, zum Symbol der Unterdrückung, wenn sie bei der Grenzkontrolle vom Fuß weg gestohlen werden, oder als ein Symbol von zurückkehrender Zivilisation inmitten von Trümmern und Brandherden.
Der im Kosovo gebliebenen Verwandtschaft kommt dabei eine besondere Rolle zu. Kicaj beschreibt, wie die Erzählerin mit ihrer Cousine Erinnerungen abgleicht, etwa an die Zeit, in der die Spannungen zwischen den Volksgruppen schon manifest waren, aber nicht zu Massenmorden führten. Während die eine der Cousinen ein wachsendes Bewusstsein für die verübten Gräueltaten entwickelt, die sie nicht direkt miterleben musste, orientiert sich die andere an der kosovarischen Gegenwart und lädt Elias nachdrücklich ein, die Region zu besuchen.
Wie weit eine Verständigung da gehen kann, bleibt offen. Den vielen Büchern aber, die zuletzt vom Ankommen und Aufwachsen in Deutschland berichtet haben, fügt dieses eine Farbe hinzu, die bislang gefehlt hat. TILMAN SPRECKELSEN
Jehona Kicaj: "ë". Roman.
Wallstein Verlag, Göttingen 2025.
176 S., geb.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.