Besprechung vom 07.12.2023
Erpresst und ausgeplündert
FRANKFURT Die belastete Geschichte des Kaufhauses Hertie und dessen jüdischem Namensgeber Hermann Tietz wurde lange nicht hinterfragt. Eine von der Hertie-Stiftung in Auftrag gegebene Forschungsarbeit gibt nun detaillierte Einblicke.
Von Karen Allihn
Lässt sich erlittenes Leid durch Geldzahlungen verringern? Der Leiter des Hessischen Wirtschaftsarchivs Darmstadt hat auf diese Frage eine eindeutige Antwort: "Wiedergutmachung, dieses Wort ist eine Frechheit", sagte Ingo Köhler bei der Vorstellung eines Buches, das genau diesen Begriff als Überschrift trägt - allerdings mit Fragezeichen: "Verfolgt, ,arisiert', wiedergutgemacht?" Gemeinsam mit Johannes Bähr, Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Frankfurter Goethe-Universität, hat Köhler drei Jahre lang mehr als 100 Archive im In- und Ausland durchforstet. Dabei ging es darum zu untersuchen, "Wie aus dem Warenhauskonzern Hermann Tietz Hertie wurde", so der Untertitel der Studie. Nun haben die beiden Autoren die Ergebnisse ihrer Forschungsarbeit im Jüdischen Museum Frankfurt vorgestellt.
Der jüdische Kaufmann Hermann Tietz wurde 1837 in der einstigen Provinz Posen im heutigen Polen geboren. Der Name ist, "einer der glanzvollsten des deutschen Einzelhandels", so Bähr, er habe einst für den zweitgrößten Warenhauskonzern Europas gestanden - mit 18 Waren- und Kaufhäusern, davon allein zehn in Berlin, mit 32 Konzerngesellschaften und etwa 16.000 Mitarbeitern. "Diese Welt hat das Konsumverhalten radikal verändert." Das erste Unternehmen, das diesen Namen trug, das "Garn-, Knopf-, Posamentier-, Weiß- und Wollwarengeschäft Hermann Tietz", wurde 1882 von seinem Neffen Oscar im thüringischen Gera gegründet. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 gehörte der Konzern Hermann Tietz zu den ersten großen jüdischen Unternehmen, die im Zuge der sogenannten Arisierung den Besitzer wechselten. Ein Vorgang mit Vorgeschichte: Schon im ersten Parteiprogramm der NSDAP aus dem Jahr 1920 sei der Vorsatz formuliert worden, jüdische Warenhäuser zu enteignen, erläuterte Köhler.
Wie dieser Plan dann von 1933 an Gestalt annahm, wie die Inhaberfamilie Tietz genötigt wurde, den Konzern in einem "Auseinandersetzungsvertrag" 1934 abzugeben und anschließend ausgeplündert wurde, wird in der Studie detailreich geschildert. Die damaligen Geschäftsführer, Oscar Tietz' Söhne Georg und Martin und sein Schwiegersohn Hugo Zwillenberg, seien, so Bähr, so lange im Berliner Hotel Adlon festgehalten und erpresst worden, bis sie der Übernahme zugestimmt hätten. "Die Tietz OHG hatte durch starke Expansion hohe Schulden, wurde aber erst durch den NS-Terror zahlungsunfähig", stellte Bähr klar. "Tietz hätte den Konzern auch ohne Schulden verloren."
Zunächst wurde der Einzelhandelskaufmann Georg Karg (1888-1972) als Geschäftsführer eingesetzt; später stieg er zum Inhaber des Konzerns auf. Die Markenbezeichnung Hermann Tietz verschwand aus dem öffentlichen Leben. Nur die jeweils erste Silbe des Vor- und Nachnamens lebten weiter: in der Geschäftsbezeichnung Hertie GmbH.
"Die belastete Geschichte von Hertie im Dritten Reich wurde lange nicht hinterfragt", sagte Bähr. "Und später, als viele deutsche Unternehmen damit begannen, sich mit ihrer NS-Vergangenheit auseinanderzusetzen, da gab es den Hertie-Konzern nicht mehr." Hertie wurde 1994 von Karstadt übernommen. 20 Jahre zuvor, nach dem Tod Georg Kargs, war die Gemeinnützige Hertie-Stiftung mit Sitz in Frankfurt gegründet worden, die in Berlin die private Hochschule Hertie School betreibt. Die Beharrlichkeit einiger Studenten habe die Hertie-Stiftung veranlasst, gemeinsam mit der Kargschen Familienstiftung ein Forschungsprojekt sowie dessen Veröffentlichung zu finanzieren, berichtete der Vorstandsvorsitzende der Hertie-Stiftung und ehemalige Chef der Bundesagentur für Arbeit, Frank-Jürgen Weise.
Bei der anschließenden, von F.A.Z.-Herausgeber Carsten Knop moderierten Podiumsdiskussion mit Bähr und Köhler sowie der Juristin Orna von Fürstenberg als Vertreterin der Jüdischen Gemeinde ging es auch um die Person von Georg Karg. Knop nannte den 1926 in das Unternehmen der Familie Tietz eingetretenen Kaufmann, der schnell zum Abteilungsleiter aufstieg, "schlau bis bauernschlau". Ein "Warenhaus-Narr" ohne weitere Interessen sei er gewesen, "kein politischer Mensch" und "sehr verschwiegen", ergänzte Bähr.
Bereits zum Auftakt der Veranstaltung hatte Julia Sabine Falke, die Vorstandsvorsitzende der Frankfurter Gesellschaft für Unternehmensgeschichte, die die nun vorliegende Studie "mit vertraglich vereinbarter Unabhängigkeit" koordiniert hat, Kargs Rolle klar umrissen: "Mitläufertum aus wirtschaftlichen Motiven". Doch sei in einer Diktatur keine Entscheidung unpolitisch. "Zu langes Wegsehen kann dahin führen, wo Menschlichkeit endet." Die Gleichgültigkeit der deutschen Gesellschaft der NS-Zeit gegenüber der Verdrängung und Verfolgung der jüdischen Bevölkerung nannte Köhler "erschreckend". Und Bähr mahnte mit Blick auf die Gegenwart: "Die Gefahr ist noch immer da, und sie wird als zu gering angesehen."
Zu den zahlreichen Besuchern der Buchpräsentation gehörten neben der ehemaligen Frankfurter Oberbürgermeisterin Petra Roth (CDU) auch Mitglieder der Familie Tietz, die aus den USA angereist waren: zwei Urenkel von Oscar Tietz, Henry Jasen und Larry Tietz, mit ihren Frauen Terri und Janet. Der 73 Jahre alte Jasen fasste eine Folge der im Buch detailliert geschilderten Emigration seiner Familie in die Neue Welt mit knappen Worten zusammen: "In Deutschland sind wir bekannt, in den USA nicht." "Alle haben überlebt", hatte Knop kurz zuvor konstatiert, "aber ihre Identität ist verloren gegangen". Die Studie von Bähr und Köhler wird Henry Jasen seiner inzwischen 100 Jahre alten Mutter Rösli mitbringen. Sie werde das Buch zwar lesen, doch: "Es ist zu spät." Jasens Wünsche an die Zukunft sind deshalb allgemein gehalten: Freiheit, Chancengleichheit und Gerechtigkeit für alle Menschen.
Dennoch hat er gemeinsam mit anderen Verwandten die Recherchen unterstützt und das Familienarchiv im Leo Baeck Institute New York für die Autoren geöffnet. Auch eine andere Quelle stand Bähr und Köhler erstmals zur Verfügung: die Dokumentensammlung der Kargschen Familienstiftung.
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