
Besprechung vom 12.08.2025
Lächeln der Sandgazelle
Jokha Alharthis großer Dorf- und Familienroman
Was für ein Roman! Er öffnet uns ein unbekanntes Land, Oman, und erzählt so genau und lustvoll von einer Dorfgemeinschaft, dass wir sie sehen und riechen, als stünden wir mitten darin: Wir hören die freundlichen Tanten und die bissigen, die schweigsamen oder herrischen Mütter, die fordernden, eigensinnigen Väter. Von der ersten Zeile an zieht das Buch in den Bann, und das ist auch der präzisen, stilistisch geschliffenen Übersetzung von Claudia Ott geschuldet, einer ausgewiesenen Spezialistin - sie teile, schreibt sie im Nachwort, mit der Autorin die Leidenschaft für klassische arabische Literatur und für das Landleben.
Die sechzig für die Übersetzung mit Überschriften versehenen Kapitel spielen in al-Awafi, einem fiktiven Dorf in Oman - das nach den Auskünften der Autorin als typisch gelten darf. In ihm spiegeln sich, konzentriert und emotional aufgeladen, die Umbrüche zwischen 1920 und 1990, in denen sich das Sultanat am Persischen Golf von einer streng hierarchischen, bäuerlichen Stammesgesellschaft in eine moderne, industriell und technisch geprägte Gesellschaft verwandelte - die Hauptstadt Maskat wird zum Sehnsuchtsort für die jungen Leute aus dem Dorf. Maskat war einst ein Umschlagplatz für Sklaven, bis die Sklaverei auf Drängen der Engländer 1926 verboten wurde. An genau diesem Tag, dem 25. September, wird im Haus des Scheichs Said die Sklavin Sarifa geboren, eine der Hauptfiguren des Romans.
Die Autorin Jokha Alharthi, 1978 in Oman geboren, unterrichtet Arabistik in Maskat. Während des Studiums in Edinburgh hatte sie ihren Roman zu schreiben begonnen, den ersten aus Oman, und wahrscheinlich sei er ein "Heimwehbuch", meint ihre Übersetzerin - womit sie sicher recht hat. In einer der schönsten Szenen, der Begrüßung einer neugeborenen Tochter in einem wohlhabenden Haus des Dorfes, amüsieren wir uns über die feinen Sticheleien der Nachbarinnen, in denen die Familienfehden mehrerer Generationen aufblitzen, sehen die prüfenden oder neidischen Blicke auf seidene Polster und vergoldete Truhen. Aus dem vielstimmigen Chor der Gäste, ihren lauten und leisen Stimmen setzt sich das Bild einer Gesellschaft zusammen, die unter einer traditionell fest gefügten und scheinbar ruhigen Oberfläche von heftigsten Spannungen geschüttelt wird.
Die einzelnen Kapitel werden aus der Sicht verschiedener Figuren erzählt, die ihren Erinnerungen folgen und oft tief in die Vergangenheit tauchen. Meist spricht Abdallah, der Sohn des Sklavenhändlers Suleiman, ein moderner junger Mann, der zwischen Dorf und Hauptstadt pendelt - und damit in diesem Fall ein idealer Erzähler ist. Er liebt das Leben im Dorf und leidet doch unter den Erwartungen: die der Schwiegermutter, die ihre Tochter opulent ausgestattet sehen will, und die des Vaters, der von seinem einzigen Stammhalter Gehorsam fordert und den Halbwüchsigen grausam züchtigt. Noch am Sterbebett des Vaters bettelt der weinende Sohn, der Vater möge endlich seine alten Wunden berühren - vergebens.
Als Kind schützte ihn nur die Liebe seiner Kinderfrau, der Sklavin Sarifa, die, schon in Oman geboren, selbstbewusst genug war, sich einen Platz am Familientisch zu erobern. Sie verehrt ihren neuen Besitzer, den Sklavenhändler Suleiman, der sie als Sechzehnjährige gekauft hatte, und will sich einen anderen Platz zum Leben als in seinem Haus gar nicht vorstellen. Auch dann nicht, als er sie zwangsweise mit einem seiner Haussklaven verheiratet, der seine Wut über die Verschleppung von der Makran-Küste immer wieder herausschreit: "Vergessen? Wo gibt es denn Vergessen?" Es könnte das Motto des ganzen Buches sein.
Der Roman spricht lokale Tabuthemen sehr offen an. Geistige Behinderungen bei Kindern etwa, für die sich die Eltern schämen - wie überhaupt Scham im Alltag auch des modernen Omans eine große Rolle spielt. Und die bis heute praktizierte Hexerei liefert einige Rätsel, die sich als Spannungsfäden durchs Buch ziehen: Wie kann es sein, dass eine gesunde junge Frau stirbt, nur weil sie einen Basilikumstrauch im Hof ausriss? Oder wohin verschwindet die wegen ihrer souveränen Freizügigkeit bewunderte Beduinin Nadschiyya, die ihr Geliebter Assan graziler findet als die von den Dichtern besungene Sandgazelle?
Mit seinen Töchtern Mayya, Asma und Chaula tritt, eindrucksvoll übersetzt, die arabische Poesie auf. Ihr gelingt Erstaunliches: Nur im "Dichterspiel" wagen es die Töchter, durch raffiniertes Kombinieren der klassischen Zeilen dem autoritären Vater seine Fehler vorzuhalten - und dank der ehrwürdigen Verfasser hörte er ihnen aufmerksam zu. Einleuchtender und schöner kann von der Macht der Poesie nicht erzählt werden. NICOLE HENNEBERG
Jokha Alharthi:
"Herrinnen des Mondes". Roman.
Aus dem Arabischen
von Claudia Ott.
Dörlemann Verlag,
Zürich 2025.
336 S., geb.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.