Politik, Krimi, Familienroman, Historie.... abgefahren, wirr, spannend - ein großartiges Buch.
Abgefahren! Ich hab schon lang nicht mehr so einen Krimi gelesen! "Der Beweis meiner Unschuld" von Jonathan Coe ist ein raffiniert verschachtelter Roman, der mehrere Genres miteinander verwebt - Cozy Crime, Dark Academia, Autofiktion und politischen Thriller. Im Mittelpunkt steht die junge Phyl, eine 23-jährige Literaturabsolventin, die nach ihrem Studienabschluss bei ihren Eltern lebt und mit einem Niedriglohnjob in einer Sushi-Kette versucht, über die Runden zu kommen. Gedanklich flüchtet sie sich in nostalgische Serienklassiker wie Friends und spielt mit der Idee, selbst einmal einen Cosy Crime zu schreiben. Doch ihr Leben nimmt eine radikale Wendung, als Christopher - ein enger Freund der Familie und ehemaliger Studienkollege ihrer Mutter, ein freischaffender Journalist - wie er sich selbst nennt - eine Konferenz besucht, die im rechten politischen Spektrum liegt und von dort nicht lebens zurückkehrt.Die Konferenz selbst - TrueCon-Konferenz - ist eine satirisch zugespitzten Variation realer rechter Ideologentreffen, in einer Zeit, in der Liz Truss kurzzeitig Premierministerin ist und das Vereinigte Königreich mit politischen Verwerfungen kämpft. Die Ermittlungen übernimmt Detective Pru Freeborne, deren Name ein ironisches Echo auf die Wahrheitssuche des Romans selbst ist. Zumindest könnte man das mal hineininterpretieren. Das wirklich Außergewöhnliche hier: Coe entwickelt die Handlung auf mehreren Ebenen: Da ist Phyls Leben und Suche nach Sinn und einer Beschäftigung in der Gegenwart und parallel dazu kommt schließlich die vielschichtige Erzählung der Hauptstory, die historische Rückblenden, politische Satire und literarische Selbstreflexion miteinander verbindet. Ein wirklich etwas abgefahrener Mix, aber in sich so unfassbar stimmig. Der Roman besticht durch seine Vielfalt an Stimmen und Perspektiven, die zusammen ein Panorama der britischen Gegenwartskultur ergeben. Themen wie konservative Think Tanks, die Privatisierung des Gesundheitswesens, die Macht politischer Netzwerke und eine weit verbreitete Nostalgie nach vermeintlich besseren Zeiten durchziehen das Buch. Coe erzählt mit scharfem Humor, präziser Beobachtungsgabe und einer feinen Balance zwischen Satire und Ernsthaftigkeit. Er entlarvt rechte Machtzirkel und konservative Ideologien, ohne seine Figuren zu Karikaturen zu reduzieren, was meines Erachtens die Ernsthaftigkeit des Themas umso mehr unterstützt. "Der Beweis meiner Unschuld" fühlt sich ein klein wenig an, wie ein literarisches Experiment: Die Geschichte unterhält wirklich gut, ist scharfsinnig und analysiert unsere Gegenwartskultur und bezieht auf sehr kluge Weise politisch Stellung. Was ich im Übrigen richtig gut finde! Es ist ein Roman, der zeigt, wie eng persönliche Geschichten, gesellschaftliche Dynamiken und politische Entwicklungen miteinander verknüpft sind, und der dabei die Grenzen von Fiktion und Realität wirklich stark verschwimmen lässt. Jonathan Coe ist hier ein sprachlich-rhetorisches Feuerwerk gelungen, das sowohl als Gesellschaftsroman wie auch als kluge literarische Satire funktioniert. Wer bereit ist, sich auf dieses vielschichtige Spiel einzulassen, wird mit einer Lektüre belohnt, die humorvoll, provokant und zugleich zutiefst aufklärerisch ist.