Besprechung vom 23.09.2024
So groß sind wir nun auch nicht
Mit zartem Strich und fließenden Farben erzählt Julie Völk oft Geschichten hinter dem, was es in den von ihr illustrierten Bilderbüchern zu lesen gibt. Jetzt rettet sie ein Kinderlied vor seiner Einfältigkeit und zwei Schwestern davor, für eine wilde Verwüstung am Esstisch zur Rechenschaft gezogen zu werden.
Julie Völk ist eine Verwandlungskünstlerin der besonderen Art: Ihre Kunst besteht nicht schlicht darin, aus Stroh Gold oder aus einer Mücke einen Elefanten zu machen. Die Illustratorin aus Niederösterreich vermag es, mit ihren Bildern einer Geschichte eine zusätzliche Deutung, einen Rahmen, ein "Es könnte auch alles ganz anders sein" zu geben, ohne sie dadurch einzuengen.
Im Bilderbuch "Die Raupe spinnt" hat sie aus einer eher schlichten Geschichte des Schweizer Kinderliedermachers Andrew Bond einen verträumten Blick auf eine ganz kleine Welt gemacht: Während sich ein Regenwurm über das seltsame Ansinnen der Nachbarin im Blumenbeet wundert, sie zusammen mit seiner Frau auslacht und sich schließlich abwendet, spinnt die Raupe nicht nur im Sinn des Regenwurms. Als sich die beiden Würmer schließlich abwenden, weil mit der Raupe zu reden verlorene Zeit sei, hat die ihren Kokon zum Verpuppen fertiggestellt und wartet voller Zuversicht auf das, was kommen mag.
So können die beiden Würmer nicht mit ansehen, was ihnen selbst nicht möglich ist: dass die Raupe sich verwandelt, wenige Tage später als Schmetterling schlüpft und sich nach einem kurzen Flug über die Dächer der Gegend zu den Artgenossen gesellt. Es mag dem begrenzten Horizont der Würmer geschuldet sein, sich frühzeitig abgewandt zu haben. Dass die Raupe zuvor ihre Vorbereitungen mit allerlei Allgemeinplätzen über das riesige Geheimnis des Lebens begleitet, über Sinnfragen und das Woher und Wohin, lässt den Entschluss der beiden fast schon verständlich wirken. Immerhin verpassen sie so nicht nur das Schlüpfen eines Schmetterlings, sondern auch dessen Moral von der Geschicht', die er auf seinem ersten Flug zum Besten gibt: "Wer spinnt und hört auf die Gefühle, dessen Welt wird weit und wunderbar und groß."
Als Kinderlied in Schweizer Mundart ist "E Raupe und en Rägewurm" vor mehr als 25 Jahren erschienen. Ein hinten im Buch abgedruckter QR-Code führt zu Aufnahmen des Lieds im Original und auf Hochdeutsch. Wer sie hört, kann über die mitunter holprige Satzstellung und Verse ohne auf den ersten Blick erkennbaren Rhythmus besser hinwegsehen. Darüber hinwegzulesen bleibt eine Herausforderung.
Was nun macht Julie Völk aus dieser Vorlage und ihren Schwächen? Sie leitet mit ihren feinen Linien und zarten Aquarellierungen den Blick der kindlichen Zuhörer so behutsam wie entschlossen vom Kriechtiergeschehen zu einer ganzen städtischen Szene. Raupe und Wurm unterhalten sich bei ihr auf einer kreisrunden Insektenwiese, auf der ein Plastikdackel mit gehobenem Bein und Verbotssignet markiert, wofür diese Grünfläche nicht gedacht ist. Bei der ersten Abbildung angeschnitten, hätte man ihn noch für einen echten Hund halten können, wie man, sobald die falsche Fährte enttarnt ist, auf dem folgenden Bild an der ebenfalls abgeschnittenen Leine einer Frau im Faltenrock einen weiteren Hund vermutet - dann aber wohl einen Koffer auf Rädern gezeigt bekommt, der sich später indes als Schild erweist, das die Frau vor ihrem Geschäft befestigt.
Da sieht man die Insektenwiese längst nur noch ganz klein, dazu Häuser und Menschen, die schon aus den vorigen Bildern bekannt sind, Katzen und Luftballons. Erst daran, dass auf dem Bild die Hauptfigur des Buchs fehlt, lässt sich schließen: Julie Völk hat dieses Bild nicht aus einer Vogel-, sondern aus der Schmetterlingsperspektive angelegt.
Man kann alles auch ganz anders sehen: Das gilt nicht nur für die Geschichte von Andrew Bond, sondern auch in einer zweiten, die Julie Völk in ihrem Bilderbuch "Kleine Schwester, große Schwester" gleich selbst erzählt: Im ganzen Buch gibt es - abgesehen von einem Stofftierelefanten und ein paar Fliegen - lediglich zwei Mädchen. Und deren Phantasie. Das größere, in blauer Latzhose, stellt seine Schwester Ada vor, nicht ohne zu betonen, wie klein Ada noch ist. Prompt wird die Kleine unzufrieden und wünscht sich Tag für Tag, eine ganze Woche lang, einzelne Körperteile eines Elefanten: einen Rüssel, Ohren, Stoßzähne, ein Schwänzchen und vier Beine. Und die bekommt sie auch.
Doch während die Leser gebannt Adas Verwandlung folgen, passiert auch auf der anderen Seite des Tischs mit bodenlanger Tischdecke und einem Kuchen drauf so einiges: Der Erzählerin fällt eine Vase um, das Wasser rinnt den Stoff hinunter und bildet eine Pfütze aus dem Boden. Schließlich fällt auch der Kuchen vom Teller. Und unter dem Tischtuch schauen die Beine der beiden Kinder hervor - und die des Stoffelefanten.
Was als sorgfältige Abgrenzung der großen von ihrer kleineren Schwester beginnt und sich zu einer gemeinsamen Phantasie ohne Halten auswächst, endet bei Julie Völk in der Erkenntnis, dass wohl beide Schwestern noch klein sind. Als Eingeständnis allerdings darf das nicht missverstanden werden, auch wenn der Tisch und der Boden davor auf den letzten Bildern alle Eltern fragen lassen, was denn hier passiert ist: Die gelassene Eintracht der Schwestern zeigt, dass sie sich keiner Schuld bewusst sind. Sie sind durch ein gemeinsames Erlebnis verbunden. Angeführt von der Jüngeren der beiden, mit einer Älteren, die sich gern hat mitreißen lassen. Dass nicht sie die Vase umgestoßen und den Kuchen vom Tisch haben fallen lassen, sondern bestimmt ein Elefant, brauchen sie den Lesern des Buchs gar nicht mehr zu sagen. Man kann alles auch anders sehen. FRIDTJOF KÜCHEMANN
Andrew Bond, Julie Völk: "Die Raupe spinnt".
NordSüd Verlag, Zürich 2024. 32 S., Abb., geb., 18,- Euro. Von 4 J. an
Julie Völk: "Kleine Schwester, große Schwester".
Gerstenberg Verlag, Hildesheim 2024. 32 S., geb., 14,- Euro. Von 3 J. an
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.Es wurden noch keine Bewertungen abgegeben. Schreiben Sie die erste Bewertung zu "Kleine Schwester, große Schwester" und helfen Sie damit anderen bei der Kaufentscheidung.