Rom von unten: Von Sklaven, Bio-Römern, Traumdeutern, vierbeinigen Zirkusstars, Normalos und Außenseitern.
Rush Hour in den Hauptstraßen, Obdachlose unter den Brücken und prächtige Wochenendhäuser, hohe Einwanderungszahlen und Unisex-Toiletten - New York? Berlin? Rom zur Kaiserzeit! Diese Zeitreise ist ein Muss für alle Geschichtsinteressierten, die mehr über das echte Leben im Alten Rom wissen möchten.
Was war eigentlich auf den Straßen los, während die ruhmreichen Gladiatoren sich in der Arena die Schädel einschlugen und Feldherren venividivici das Römische Reich vergrößerten? Wie lebte es sich in der kosmopolitischen Hauptstadt, berühmt für eine blühende Wirtschaft, mit Smog und Stau? Und in einer Klassengesellschaft mit dekadentem Luxus und großer Armut? Der provokante Slogan »60-Jährige von der Brücke! « wurde schon zur römischen Kaiserzeit heftig diskutiert.
Karl-Wilhelm Weeber führt als kundiger Cicerone mit viel Witz und Esprit durch das Rom der Kaiserzeit, er erzählt, was Nachtigallen kosteten (lebend) und wie hoch die Wahrscheinlichkeit war, das 10. Lebensjahr zu erreichen. Wir erfahren, dass Xenophobie in der Einwanderungsstadt (Griechen! syrische Frauen!) die Ausnahme war, Diskriminierung von Menschen mit Behinderung aber gang und gäbe, dass schon damals Raubbau an der Natur betrieben und kritisiert wurde, und dass - funktionierender Rechtsstaat hin, florierende Wirtschaft her - das Leben für die Allermeisten kein Zuckerschlecken war.
Besprechung vom 11.06.2025
In der Migrantopolis
Beim Sex kein Vorbild: Karl-Wilhelm Weeber misst die alten Römer an modernen Pflichten
Das antike Rom erlebt derzeit eine Hochkonjunktur als Vergleichsobjekt. Kaum eine Weltmacht, die nicht als Reinkarnation des Imperium Romanum betrachtet wird, kaum ein Staatslenker, bei dem nicht zumindest vage Ähnlichkeiten mit Caesar oder einem anderen römischen Herrscher konstatiert werden. Aber unterscheiden sich die politischen, sozialen und gesellschaftlichen Strukturen im antiken Rom nicht grundsätzlich von denen der tonangebenden Nationen des 21. Jahrhunderts? Ist das Leben vor rund zweitausend Jahren nicht ein ganz anderes gewesen?
Nicht unbedingt, soweit man Karl-Wilhelm Weeber folgen möchte, dem unerschrockenen Erforscher der römischen Kultur-, Sozial- und Alltagsgeschichte, der in seiner neuen Studie "Rom von unten" betrachtet. Schon das Inhaltsverzeichnis verrät überdeutlich die Absicht, das alte Rom mit modernen Parametern und aktuellen Themen zu erfassen, die an den jüngsten Koalitionsvertrag erinnern: Neben Arbeitsbedingungen, innerer Sicherheit und Migration gehören dazu auch Tierschutz, der Umgang mit Minderheiten, sexuelle Toleranz und Umwelt.
Den Ausgang nimmt Weeber von der Frage der Sklaverei. Während die Römer heute von der postkolonialen Front als "Sklavenhaltergesellschaft" eingeordnet werden, rät Weeber zur Vorsicht: Im Durchschnitt kamen auf eine römische Oberschichtfamilie zwei bis drei Sklaven; darüber hinaus war Arbeit durchaus nicht reine Sklavensache, sondern wurde von Freien und Unfreien abgeleistet. Gleichwohl gilt es den Sklavenstand in der griechisch-römischen Antike nicht zu verklären: Nachweislich wurden Sklaven wie Ware behandelt, und Weeber gibt reichlich Beispiele für ihren Missbrauch. Doch kennt er auch einige Beispiele für öffentlichen Protest (Demos, Sitzblockaden) durch römische Bürger im Falle unmäßiger Gewalt gegenüber Sklaven.
Sklaven waren vor allem im verachteten Handwerk tätig, mussten in Mühlen oder Bergwerken arbeiten. Nicht selten verdingten sie sich als Ärzte oder Lehrer, Berufe von zwielichtigem Ansehen, die man ohne Ausbildung ausüben konnte. Das Thema Sex hat es Weeber nicht nur hinsichtlich der Sklaverei besonders angetan: Vor allem weibliche Sklaven kamen auf diesem Gebiet besonders häufig zum Einsatz, Prostitution war allgegenwärtig, nicht nur auf dem beliebten Straßen- oder Gräberstrich. "Sexuelle Ausbeutung" allenthalben, und hier verfällt Weeber auch häufiger in einen moralischen Tonfall, von dem er sich sonst ironisch abzusetzen versteht. Die römische Sexualmoral sei jedenfalls "nicht vorbildhaft" gewesen - wann wäre eine solche das je gewesen? Und vor allem: Ist sie das heute?
Auch literarisch verbürgte Scherze über Behinderte missfallen dem Autor: Für eine Frau, die ihren hinkenden Gatten nicht nur betrügt, sondern auch noch verspottet - wie weiland Venus ihren göttlichen Gatten Vulcan -, hat er wenig Verständnis, und die verbreitete Verhöhnung des stotternden und zittrigen Kaisers Claudius (man denke an Senecas "Verkürbissung") ist ihm ein Ausweis dafür, dass die Römer in Sachen Diskriminierung "weniger sensibel waren als wir" und "Humor ohne Empathie" pflegten. Schon die sprechenden Beinamen demonstrieren ein entspanntes Verhältnis zur "Diskriminierung" ("Glatzkopf", "Fettsack", "Schieler", "kastrierter Eber" . . .). Auch hier zaubert Weeber jedoch ein paar positive Gegenbeispiele hervor, um die Römer nicht in allzu trübem Licht erscheinen zu lassen: Mit blinden Rechtsanwälten und einarmigen Politikern führt er Belege für das an, was er als "positive Integration" bezeichnet.
Auch mit den Alten gingen die Römer nicht zimperlich um: Das Sprichwort "Sexagenarii de ponte!" ("Schmeißt die Sechzigjährigen von der Brücke!") dürfte nach heutigen Maßstäben wohl als "Ageism" gelten. Andererseits spricht die Wertschätzung des Senats und des "mos maiorum" für den römischen Respekt vor den Alten. Der Jugend erging es indes auch nicht nur rosig. Nur knapp fünfzig Prozent der Kinder überlebten das zehnte Lebensjahr, und Kindsaussetzung oder -tötung wurden liberal gehandhabt. Unbeschwerte Jahre im freien Spiel dürfte auch den überlebenden Kindern selten vergönnt gewesen sein. Ihren Frust konnten die jungen Leute dann später ablassen, jedenfalls einige, die sich zu sogenannten grassatores ("Sauftrupps") zusammenfanden und die Innenstädte verunsicherten - hier soll es sich aber wohl vor allem um die Kinder gut betuchter Bürger gehandelt haben, und gerüchteweise befand sich auch Nero als Teenager unter ihnen. Die Römer hatten wenige Möglichkeiten, sich gegen derlei nächtliche Exzesse zur Wehr zu setzen: Eine Polizei gab es nicht wirklich. Zeitweise wusste man sich mit Bürgerwehren und Wachhunden - oder zum Schutz bestellten Sklaventrupps - zu helfen.
Bisweilen wurden diese auch aus Angst vor Einwanderern eingesetzt: Rom war eine regelrechte "Migrantopolis", was auch einige "Wutbürger" mit "rassistischen" Vorurteilen auf den Plan rief, etwa gegen "verweichlichte" Griechen, "diebische" Syrer und so fort; insgesamt soll solchen Überfremdungsängsten jedoch eine überwältigende Mehrheit aufgeschlossener und toleranter Römer gegenübergestanden haben. Wer auch immer woher kam - zurechtfinden mussten sich die alten oder neuen Römer allein, hatten für sich und ihre Familien zu sorgen. Zu den wenigen prominenten Sozialleistungspaketen, die die römischen Regenten in der Kaiserzeit schnürten, gehört das in der Fassung des Satirikers Juvenal verkürzt wiedergegebene "panem et circenses": Der Kaiser alimentierte die (nichtsklavische) Bevölkerung Roms und stellte sie von der Erwerbstätigkeit frei; in Notzeiten kam es auch zur Subventionierung des Getreidepreises. Zur Ablenkung sollte das üppige Unterhaltungsprogramm im Circus Maximus beitragen; doch stellt Weeber unmissverständlich klar, dass diese Form der Herrschaftssicherung keineswegs zur Entpolitisierung geführt habe.
Ansonsten können Tarifverhandler auch von der römischen Feiertagsgestaltung lernen: Der römische Kalender wies zeitweise eine immense Zahl an Feiertagen aus (knapp 160 unter Claudius), jedoch waren darunter nur wenige verbindlich. In der Regel konnte man sich aussuchen, ob man sich wirklich freinahm - und freiwillig auf die Einnahmen an diesen Tagen verzichtete.
Der ausgewiesene Altphilologe und -historiker Weeber wertet für seinen Parcours durch den römischen Alltag einen reichen Fundus an historischen und literarischen Quellen aus. Allerdings macht er selbst keinen Hehl daraus, dass nicht wenige seiner Beobachtungen auf Vermutungen oder Spekulationen beruhen oder einzig in literarischen Texten belegt seien. Es gehört wohl zum Wesen dieser Sozialgeschichte, dass literarische Darstellungen einigermaßen unmittelbar auf die Realität übertragen werden und dabei gelegentlich übers Ziel hinausschießen. Wenn es aber auf so charmante, unterhaltsame und selbstironisch-kokette Weise geschieht wie in diesem Rom-Buch, kann man das entspannt hinnehmen. MELANIE MÖLLER
Karl-Wilhelm Weeber: "Als Rom noch nicht
Antike war". Reise in die Römerzeit.
Galiani-Berlin Verlag, Köln 2025. 432 S., geb.
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