
»Eine hellwache Beobachterin unserer Gegenwart. « Jury des Else-Lasker-Schüler-Preises 2022
Beim »Reichsbürger«-Prozess in Frankfurt sitzen die Verfassungsfeinde längst überall im Publikum. An die Wände von Universitäten werden mitten in Deutschland antisemitische Parolen gesprayt. Und über den Klimawandel wird erstaunlich leise gesprochen. Alles ist hyperpolitisch, auch die Kunst. Aber hören wir überhaupt noch zu? Sehen wir die entscheidenden Dinge? Können wir noch miteinander sprechen? Wie immer in ihren Büchern streift Kathrin Röggla als engagierte Zeitgenossin durch unsere Gegenwart. Sie schaut hin, hört zu, befragt die Wörter und riskiert ihre Sätze, um zu neuen Erzählformen zu finden. Denn was in der sogenannten Polykrise auch in Frage steht, sind die Spielräume der Literatur.
Besprechung vom 25.09.2025
Der besonders verstockte dritte Affe
Ein Stück näher an die Wahrheit kommen: Kathrin Rögglas Essaysammlung über kommunikative Krisen und Katastrophen
Gerichtsverhandlungen scheinen schreibende Frauen in besonderer Weise anzuziehen und ihr lebhaftes Interesse zu erregen, ihre Vielseitigkeit anzustacheln und ihren Witz zu provozieren. Um nur zwei herausragende Beispiele zu nennen: in den Zwanzigerjahren die Gerichtsreporterin Gabriele Tergit, die mit ihren Reportagen oft als einzige Frau im Gericht für Aufsehen sorgte, und im Nachkriegsdeutschland Peggy Parnass, die kürzlich achtundneunzigjährig gestorben ist und siebzehn Jahre lang scharfzüngige Gerichtskolumnen für die Monatszeitschrift "Konkret" schrieb. Der weibliche Blick scheint von besonderer Schärfe und Hellsichtigkeit für die gesellschaftlichen Umtriebe vor Gericht.
Nun kommt die österreichische Schriftstellerin Kathrin Röggla, 1971 in Augsburg geboren und heute in Köln lebend, hinzu. Über Jahre hinweg verfolgte sie den NSU-Prozess, den Reichsbürgerprozess und die Gerichtsverhandlungen in Hanau. Sie hat sich darüber vielfältig geäußert, in Hörspielen, Essays und dem Roman "Laufendes Verfahren" (F.A.Z. vom 3. August 2023). Ihre Intention ist nicht das Maß der Bestrafung der Täter, ihr geht es um Strukturen, sie erfasst den Gerichtssaal als theatralischen Raum, in dem sich Menschen geschickt oder ungeschickt bewegen, und zugleich ist es ein eminent politischer Ort offener und verdeckter Absichten. Rögglas eigenes Urteil bleibt im Gegensatz zu ihren beiden Vorgängerinnen zurückhaltend: Sie nimmt selten Partei, bleibt nüchtern. Ihre Kernfrage ist, wie sich in einer aus den Fugen geratenen Welt der Rechtsfrieden wiederherstellen ließe.
Die Beobachtungen waren für die Autorin nach eigener Aussage ein "unheimlicher Lernprozess". Deswegen hat sie sich immer wieder mit Gerichtsverfahren beschäftigt, verschiedene literarische Formen gesucht, um der Wahrheit ein Stück näher zu kommen und ihre Zeitdiagnose zu verfeinern. Das gelingt nicht immer, auch weil ihre eigenen Zweifel zwischendurch quer durch den Text schießen und mehr Fragen als Antworten aufkommen lassen. Vielleicht auch deshalb der Versuch, noch einmal den ganzen Stoff in einem großen Ballen zusammenzupacken und zu einem Ganzen zu formen: Die Autorin hat ihre Essays zum Thema, kleinere und größere, davon zehn bereits in anderen Zusammenhängen veröffentlicht, nun in einem einzigen Band so geschickt zusammengebunden, dass er wie ein übergangsloser Groß-Essay zum Nachdenken über Krisen und Katastrophen der Gegenwart wirkt. Bindeglied ist das uralte Symbol der drei Affen: Der eine sagt nichts, der andere hört nicht, der dritte sieht nichts. Als Figurengruppe waren sie auf dem Regal von Rögglas Großmutter platziert, jeder kennt sie aber auch aus eigener Erinnerung, und die Schriftstellerin nimmt die Gruppe zum Leitfaden für ihr Nachdenken über die Zeit und unsere verschrobene Kommunikation.
Gleich vorweg teilt Kathrin Röggla ihrer Leserschaft mit: "Ich bin keine Geschichtenerzählerin, obwohl ich Schriftstellerin bin. Ich tue mich schwer damit, Szenarien zu etablieren, Figuren einzuführen, die einem herzzerreißend nahegehen, einen Plot zu stricken, der einen in Atem hält, mit dem entscheidenden Twist just vor seinem Ende." Zum Glück verlangt ein Essay keinen Twist, und wenn denn doch mal eine Geschichte hervorlugt, wird der Leser es nicht verargen. Die Autorin wurde durch viele Preise, Stipendien und Literatur-Dozenturen ausgezeichnet. Ob Geschichte oder Narrativ - sie versteht zu schreiben.
Das Schweigen ist eine fatale Eigenschaft mit fatalen Folgen. Das Nicht-Sehen steckt auch voller Gefahren; aber am prekärsten ist für Röggla das Nicht-Zuhören, denn es gibt in unserer Gesellschaft, so ihre Meinung, keine Kultur des Zuhörens. Die Ohren sind das einzige Organ, das sich nicht schließen lässt, und die Abwehr beim Zuhören kann viele Gründe haben: "Man hört nicht zu, wenn man zu müde ist. Wenn man davon ausgeht, dass das Gegenüber lügt oder Unsinn redet. Wenn man nicht zuordnen kann, was gerade los ist. Wenn man zu viel zu tun hat. Wenn es zu irritierend wäre zuzuhören. Man überhört ja nicht einfach nur, sondern hört auch oft das Falsche, es heißt dann, man hat sich verhört. Manchmal ist es Wunschdenken . . . Man will endlich etwas anderes hören."
Kathrin Röggla seziert nicht nur das Verhalten im Gerichtssaal. Sie ist erfahren als Rednerin und Zuhörerin in vielen Institutionen, sei es im Rundfunkrat des RBB, in der Akademie der Künste in Berlin, in diversen Arbeitsgruppen und auch auf literarischen Festivals. Wohl gibt es eine Konkurrenz des Redens, nicht aber eine Konkurrenz des Zuhörens, so Röggla. Das Zuhören bleibt im Dunkeln. Es bleibt ein Geheimnis. Das Reden kann in der medialen Öffentlichkeit immer wieder - zum Beispiel durch die Presse - konterkariert und in eine Schieflage gebracht werden. Ein besonders probates Mittel dafür sind Nebelkerzen, auf die Röggla mit Verve zu sprechen kommt, denn sie eignen sich vorzüglich, um im multimedialen Spiel Verwirrung zu stiften.
Verwirrung hinterlässt allerdings auf die Dauer auch Rögglas Großversuch, alles in eins zu packen, sodass man als Leser und Leserin trotzdem nicht davor gefeit ist, sich bisweilen die Ohren verstopfen zu wollen. LERKE VON SAALFELD
Kathrin Röggla: "Nichts sagen. Nichts hören. Nichts sehen." Essays.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2025. 302 S., geb.
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