Lai Wen erklärt im Nachwort, dass sie ihre eigene Geschichte zu Papier gebracht hat und damit vor allem ihrer Tochter Anna erklären wollte, wer die Frau war, nach der sie benannt worden ist. So verschwimmen die Konturen zwischen dem, was Fiktion ist, und dem, was sich im Jahr 1989 wirklich zugetragen hat.
Doch der Reihe nach: Lai Wen beschreibt das Heranwachsen der gleichnamigen Protagonistin Lai. Sie lebt mit ihren Eltern, ihrem jüngeren Bruder und ihrer Großmutter in eher ärmlichen Verhältnissen. Während ihre Eltern für sie nicht wirklich greifbar zu sein scheinen, liebt sie ihre Großmutter über alles. Sie ist der Dreh- und Angelpunkt der Familie. Mit ihrer direkten, manchmal auch boshaften Art spielt sie eine entscheidende Rolle im Leben der jungen Lai, auch als sie älter wird. Der Verlust der Großmutter wird dann auch ein einschneidendes Erlebnis sein, das sie stark prägt.
Wir begleiten Lai auf ihrem Weg zum Erwachsenwerden. Sie entdeckt einen Buchladen, der von einem älteren Mann betrieben wird, der sie mit Klassikern der Weltliteratur versorgt. Hier wird der Grundstein für ihre Literaturleidenschaft gelegt. Lai verliebt sich außerdem in Gen, einen Freund aus Kindheitstagen. Die Beziehung zu ihm ist nicht wirklich glücklich, Gen nützt Lai für seine Zwecke aus, sie folgt ihm, ohne diese toxische Bindung zu hinterfragen. Später dann, als sie an der Universität in Peking Literatur studiert, lernt Lai eine schillernde Persönlichkeit kennen, Madame Macow, die eine Theatergruppe leitet und mit ihrer unkonventionellen Art Lai in ihren Bann zieht.
Im Hintergrund dieser Coming-of-Age-Geschichte erfährt man einiges über das Leben in China. Die Repressalien der Regierung sind immer gegenwärtig, mal mehr, mal weniger, aber sie prägen die Menschen und manche der Opfer werden auch gebrochen. Lai lässt sich als folgsame Schülerin zunächst von der Ideologie beeindrucken, als Studentin, die die Proteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens live miterlebt, werden ihr die Augen geöffnet.
Der Roman besticht dadurch, dass er uns in fremde Welten entführt und die Ereignisse aus dem Jahr 1989 wieder in Erinnerung ruft. Leider nehmen diese relativ wenig Raum ein. Man erhält zwar einen Einblick, wie brutal das Militär vorgegangen ist, insgesamt werden die Ausschreitungen aber auf relativ wenigen Seiten beschrieben. Viel mehr Raum ist der Entwicklung und dem Heranwachsen der jungen Lai gewidmet. Sie durchlebt Höhen und Tiefen, wie jeder Teenager.
Sprachlich ist der Roman gut lesbar, die Autorin gibt ihren Protagonistinnen und Protagonisten Namen, die man sich als Europäerin gut merken und voneinander unterscheiden kann. Leider bleiben die verschiedenen Figuren etwas konturlos und werden eindimensional gezeichnet bzw. typisiert. Die Mutter ist diejenige, die ständig Streit sucht, auf die Studenten schimpft und wenig Interesse und Zuneigung zeigt. Der Vater zieht sich ständig zurück und nimmt am Familienalltag nur passiv teil und auch die Großmutter wird als streitbare alte Frau beschrieben.
Insgesamt lohnt es sich aber, den Roman zu lesen, weil er viel Lokalkolorit bietet und ein wichtiges historischen Ereignis in Erinnerung ruft.