
Wie beginnt man ein Leben am Ende der Geschichte?
Drei Mädchen vom Stadtrand, Center Shock auf der Zunge, abgerissener Mercedesstern um den Hals. Das sechsspurige Adlergestell vor der Nase. Ostberliner Kindheit um 1990.
Sie sind frei. Das wird jedenfalls behauptet. Freier als ihre Mütter, die sich verlieren in den Wirren des Umbruchs. Freier als ihre Großmütter, die noch immer verfolgt werden von den Gespenstern der Vergangenheit. Die drei Mädchen wollen ihr Leben selbst in die Hand nehmen. Doch als sie merken, dass auch die neue Freiheit Grenzen hat, kommt es zum Knall.
Lenka, Chaline und die Erzählerin wachsen Tür an Tür auf, an der großen Berliner Ausfallstraße, dem Adlergestell. Beste Freunde, unzertrennlich, trotz oder wegen der völlig verschiedenen Milieus, aus denen sie kommen. Mit dem Schulanfang treten sie ein in das Chaos nach dem »Ende der Geschichte«. Das schmeckt so süß und prickelt so sauer wie die neuen Center Shocks. Doch die großen Erwartungen zerplatzen so schnell wie ihre Kaugummiblasen. Denn den Adler kümmert ihre Existenz wenig und ein Gestell gibt keinen Halt. 35 Jahre danach beginnt die Erzählerin eine Spurensuche. Warum haben sie sich verloren? Was hat ihre Vergangenheit, die ihrer Mütter und Großmütter, mit den
Verwerfungen von heute zu tun? Und hatten sie überhaupt eine Chance?
Ein furioser Nachwenderoman, der mitten in unsere Gegenwart führt.
»Laura Laabs schildert eine Gegenwart, die Anfang der 90er Jahre gerade in die Zukunft abrutscht. Und die Vergangenheit sitzt auch noch mit an der Kaffeetafel und trinkt Eierlikör. Ein Buch, das souverän durch die Zeiten spaziert. « Jenny Erpenbeck
Besprechung vom 12.10.2025
Tintenkiller-Jahre
Mitläufer, Mittäter? Laura Laabs erzählt von einer Kindheit im Osten der Nachwendejahre.
Zuletzt war wieder viel von den Baseballschlägerjahren im Osten der Neunziger die Rede. Um vernachlässigte Jugendliche ging es, ihre Suche nach Halt. Wer damals im Westen aufgewachsen ist, kann sich das nicht vorstellen, höchstens eine Ahnung davon erspüren, wie schwer es gewesen sein muss, nach der Wende, in einer Zeit, in der man dabei zusehen konnte, wie sich die Welt um einen herum auflöste, ein Kind großzuziehen. Noch unmöglicher, sich in den Kinderkopf zu versetzen, die Absurdität eines Schulalltags mit Lehrern, die ihren eigenen Worten nicht mehr trauen.
Ziemlich am Ende von "Adlergestell" geht es darum, da fragt die neue Chefin im Westen die namenlose Protagonistin, wie das so gewesen sei, eine Kindheit "im Osten". "Sie selbst habe mal eine Klassenfahrt nach Thüringen gemacht, die Kinder dort hätten ihr leidgetan. Das Thema war mir unangenehm, und ich zuckte nur mit den Schultern." Das ist alles, für unsere Heldin gibt es nichts zu sagen.
Wie auch? Lange, schwierige Geschichte. Die Kindheit dreier Mädchen in einem Ost-Berliner Vorort. Die erste, die Namenlose sucht schon mit sieben Jahren nach Halt an Orten und bei Menschen, die das tägliche Beben in ihrem Kopf in Vulkane und Erdrutsche verwandeln. Die zweite, Lenka, wird von ihrem Trinkervater nach jedem Kneipenbesuch geschlagen. Die dritte, Chaline, hat eine Mutter, die noch abwesender ist als abwesend: "Eins: Was sie sieht, ist nicht da. Zwei: Was sie hört, ist nicht wahr. Drei: Sie schließt die Augen und ist ihre eigene Welt." Diese Mutter hat ihr erstes Kind mit 14 bekommen, ist ins Umerziehungsheim geschickt worden und hat sich später nicht anders zu helfen gewusst, als ihren Körper zu verkaufen. Ihr erstes Kind ist längst zum rechten Schläger geworden.
Allen drei Mädchen ist bewusst, dass sie für etwas büßen, mit dem sie nichts zu tun haben. Erst klingt das so: "Tintenkiller waren untersagt. Es schien unfair, dass in einer Zeit der allgemeinen Vertuschungen und Verdrehungen gerade unsere Fehler nicht ausgelöscht werden durften." Dann beginnen sie, sich zu wehren, und dabei wird es ungemütlich.
Adlergestell, so heißt die längste Straße Berlins. Später wird die Regisseurin und Schriftstellerin Laura Laabs, selbst im Osten geboren, an die vergessenen Geschichtsmomente dieses Ortes erinnern, an Friedrich Wilhelm den Ersten, der die Schneise in den Forst schlagen ließ. An das dem Ministerium für Staatssicherheit unterstellte Wachregiment Feliks Dzierzynski, in dessen Überresten die Kinder ihrer Geschichte spielen.
Ansonsten zieht sie am Adlergestell vorüber, die Zeit, dreht ihre Kreise, weist zurück und über sich hinaus, und all die Frauen, die bei Laura Laabs geräuschvoll auf- und abtreten, suchen Halt in der Zeit, finden aber keinen. Die Lehrerin, der die bohrenden Blicke der Kinder Angst machen, die alte Nachbarin, die erst mit einem Nazi, dann mit einem Sozialisten verheiratet war: "Ich wusste es nicht besser. Und wie ich's wusste besser, da war es schon zu spät." Mitläufer, Mittäter, Unschuldige, "und die vergangenen Jahre schienen ihnen nur wie ein schlechter Film, der zwischen ihrer letzten und ihrer neuen Begegnung gelaufen war."
Dann wieder flimmern die Verheißungen der Werbeindustrie über die Seiten wie Sprenkel aus Wahnsinn und Paradies inmitten der Lebenshärten, und die Jahre schreiten voran, immer auf den nächsten Abgrund zu, in einer Sprache, die roh und verspielt und ungezähmt und mitfühlend ist. So kann man von der Zeit erzählen. So kann man sie ein bisschen besser verstehen. ELENA WITZECK
Laura Laabs: "Adlergestell". Tropen, Berlin 2025, 240 Seiten
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