Gemischte Gefühle.
Meine Erwartungen: Biographien von vielen Frauen, denen ihr geistiges Eigentum, ihre wissenschaftlichen Erfolge, ihr Ruhm genommen wurde - aus dem einfachen Grund, weil sie Frauen waren und die Gesellschaft patriarchalisch geprägt war und ist. Erhofft habe ich mir auch, von Frauen zu erfahren, deren Schicksal noch nicht so bekannt ist.
Leonie Schöler hat aber mehr als das im Sinn.
Sie holt weiter aus, erzählt und bewertet nicht nur Biographien einzelner Frauen, sondern taucht auch in viele Debatten ein, etwa über Identitätspolitik, weißen Feminismus, Geschlechtertrennung im Sport, männliche Algorithmen. Die Strukturen, die die Benachteiligung von Frauen ermöglichen, stehen im Vordergrund.
Weniger davon wäre für mich mehr gewesen. Denn natürlich bleibt die Autorin so zwangsläufig an der Oberfläche. Die wirklich interessanten Lebensläufe , die sie aufgreift, kommen zu kurz. Sehr deprimierend fand ich die Geschichte der ehrgeizigen Clara Immerwahr. Im Jahr 1900 wird ihr die Doktorwürde im Fach Chemie verliehen. Die außergewöhnliche Wissenschaftlerin heiratet ihre Jugendliebe, den Chemiker Fritz Haber. Nach der Eheschließung ist die hoffnungsfroh begonnene Karriere (wie bei so vielen Frauen) auch schon zu Ende. Schöler lässt sie selbst zu Wort kommen: "Was Fritz in diesen acht Jahren gewonnen hat, das - und mehr - habe ich verloren, und was von mir eben übrig ist, erfüllt mich selbst mit der tiefsten Unzufriedenheit." Ihr Mann dient sich dem Militär an und wird im Ersten Weltkrieg für seine Erforschung des tödlichen Nervengases belobigt. Am Tag der Feier seines Erfolgs bringt sich die Pazifistin Clara um.
Andere beeindruckende (aber oft zu knappe) biographische Streifzüge drehen sich um die Physikerin Mileva Mari (Frau Albert Einsteins), Eleanor Marx, die Bauhaus-Fotografin Lucia Moholy, deren Lebenswerk von Walter Gropius geraubt wurde, Lise Meitner, Rosalind Franklin, der man mit Raub und platten Lügen den Nobelpreis geklaut hat, die Schriftstellerinnen, deren Werk Brecht sich einverleibte (Elisabeth Hauptmann, Ruth Berlau, Marieluise Fleißer), und viele andere.
Eine sachlichere Darstellung wäre mir lieber gewesen.
Im Anhang Anmerkungen und eine ausführliche Bibliographie.
Gestört habe ich mich an der zu flott und flapsig daherkommenden Sprache, einem Stil, den ich als feministischen "Freundinnen-Stil" bezeichnen würde, und den recht beliebig eingestreuten und oftmals verzichtbaren Info-Kästen.
Unterhaltsam, aber nicht ganz mein Fall. Wahrscheinlich für ein jüngeres Publikum besser geeignet.
Ausgezeichnet mit dem Bayern 2-Publikumspreis des Bayerischen Buchpreises 2024.